Kommentar von Susan Boos: Die bösen Folgen eines falschen Versprechens

Nr. 18 –

Japan kommt vierzehn Monate nach dem Super-GAU von Fukushima bald ganz ohne Atomstrom aus, obwohl die AKWs vorher knapp ein Drittel des Strombedarfs geliefert haben. Das bereitet nicht nur Freude.

Der kommende Sonntag könnte in Japan ein historischer Tag werden: Voraussichtlich wird am 6. Mai der letzte von 54 Reaktoren vom Netz gehen – Japan wird dann ganz ohne Atomstrom sein. Das letzte Mal war dies vor über vierzig Jahren der Fall. Man könnte es als blitzschnellen Atomausstieg feiern und als Beweis, dass die mächtige Industrienation gut ohne AKWs auskommt. Die meisten Reaktoren hat man schon vor Monaten abgeschaltet, weil sie nach den Kernschmelzen in Fukushima Daiichi überprüft und nachgerüstet werden mussten oder weil die üblichen Revisionsarbeiten anstanden.

In Japan selbst spürt man wenig von einer Stromknappheit, die staatlich angeordneten Sparübungen endeten schon im letzten Herbst. Die Fahrstühle und Rolltreppen fahren. Immer noch stehen an jeder Strassenecke Getränkeautomaten, die heisse und kalte Getränke anbieten. Und die Klobrillen sind selbst in manchen Häusern in der verseuchten, evakuierten Zone von Iitate-Mura weiterhin geheizt.

Vordergründig läuft der Alltag reibungslos, auch ohne AKW-Strom. Frühestens im Sommer werden zwei Reaktoren des AKWs Oi an der Wakasa-Bucht, etwa fünfzig Kilometer nördlich von Kyoto, vielleicht wieder hochgefahren. Die nationale Regierung würde die beiden Meiler gerne schnell wieder ans Netz hängen, doch braucht es dafür die Zustimmung der regionalen und lokalen Behörden. Die sind sehr skeptisch, auch weil der Widerstand in der Bevölkerung steigt. Die malerische Wakasa-Bucht ist nämlich zugebaut mit AKWs, insgesamt stehen dort vierzehn Reaktoren, plus der Schnelle Brüter Monju, der bislang nur durch seine Schwierigkeiten Schlagzeilen machte. Es kann also dauern, bis die Reaktoren von Oi wieder Strom produzieren.

Man mag sich darüber freuen und sich vor allem fragen, wie das geht, haben doch die AKWs dreissig Prozent des japanischen Strombedarfs gedeckt. Hier die Antwort, die nicht nur Freude bereitet: Die Hauptinsel Japans hat zwei Stromnetze, die mit unterschiedlichen Frequenzen betrieben werden. Die beiden Netze sind nicht miteinander kompatibel. Anders als in Europa verfügt Japan deshalb nicht über ein ausgedehntes Netz, mit dem es möglich wäre, dass zum Beispiel der Norden dem Süden mit Strom aushelfen könnte. Schon vor Fukushima war oft ein Viertel der Reaktoren nicht am Netz, weil sie gewartet oder repariert wurden. Um trotzdem keine Stromausfälle zu riskieren, hat man unzählige Erdöl-, Kohle- oder Gaskraftwerke gebaut, die bei Bedarf einspringen konnten.

Insgesamt verfügten die japanischen AKWs zusammen über eine Leistung von 50 000 Megawatt – die siebzig fossilen Kraftwerke bringen es auch auf 40 000 Megawatt. Und sie laufen jetzt alle auf Hochtouren, um das Land mit Strom zu versorgen. Das hat seinen Preis: Der CO2-Ausstoss des Landes stieg im letzten Jahr um 4,4 Prozent.

Die Kernschmelzen in Fukushima haben das Land also von seinen Klimaschutzzielen wegkatapultiert. Noch vor drei Jahren verkündete die Regierung selbstbewusst, sie werde den Treibhausgasausstoss bis 2020 (verglichen mit dem Jahr 1990) nicht nur um 8, sondern um 25 Prozent senken. Die japanische Atomenergiebehörde JAEA hatte gar das Ziel, bis ins Jahr 2100 den CO2-Ausstoss um 90 Prozent zu reduzieren. Man setzte dabei vor allem auf Atomstrom. Die Betriebsbewilligungen der alten Reaktoren wurden verlängert. Block 1 von Fukushima Daiichi hätte beispielsweise auch stillgelegt werden sollen, weil er vierzig Betriebsjahre hinter sich hatte, im Februar 2011 verlängerte dann aber die Aufsichtsbehörde seine Betriebslizenz um zehn Jahre. Mit dem Bau von zwei neuen Reaktoren hatte man bereits begonnen, zwölf weitere waren geplant.

Das ist nun alles nichtig. Kaum jemand in Japan glaubt, dass in den nächsten Jahren noch ein Atomkraftwerk gebaut wird.

Derweil hätte es von Anfang an anders laufen können. Schon 2003 erschien die Studie «Energy Rich Japan», die deutsche und japanische WissenschaftlerInnen gemeinsam erarbeitet hatten. Die Studie zeigt, wie Japan seinen Energiebedarf – inklusive Treibstoff – zu hundert Prozent mit erneuerbaren Energien decken könnte, wenn man massiv in diese Technologien investieren würde und nur noch die effizientesten Geräte zuliesse. «Als energiehungriges und vermeintlich ‹ressourcenarmes› Land könnte Japan diesen Umstieg auf saubere erneuerbare Energien ohne Einbussen in Lebensstandard oder industrieller Leistungsfähigkeit schaffen», konstatiert Harry Lehmann, der damals beim Wuppertal-Institut für die Studie verantwortlich war und heute beim deutschen Umweltbundesamt für Nachhaltigkeitsstrategien zuständig ist.

Das grosse Versprechen, mit AKWs lasse sich das Klima retten, ist mit dem Tsunami vom März 2011 endgültig weggefegt worden. Es hat Japan nicht nur einen nuklearen Albtraum beschert, sondern sich ins blanke Gegenteil verkehrt.

www.energyrichjapan.info