China: Wer ohne Grund Ärger sucht …
Nicht nur in Hongkong, auch in China werden derzeit Menschen verhaftet – darunter vierzig Leute, die mit den Protesten nicht einmal etwas zu tun hatten. Warum? Eine Spurensuche.
«Xun xin zi shi», wiederholt Ya Fei nachdenklich. Dann klappt sie den Schutz von ihrem Tablet und beginnt, suchend darauf herumzuwischen. «Ich weiss gar nicht, wie ich das erklären soll. Es bedeutet: ohne Grund Ärger suchen. So etwas wie … hm … Leute aufhetzen?» Eine besonders gute Erklärung ist das nicht für das, was derzeit in China passiert.
Wäre Ya Juristin, dann hätte sie wohl gesagt, dass «xun xin zi shi» auch Schlägereien, Beleidigungen, Sachbeschädigung sowie Ruhestörung umfasst – aber meistens mit «die gesellschaftliche Ordnung stören» übersetzt wird.
Gerade in der Eisenbahn
Andererseits ist es kaum zu glauben, dass die Schriftstellerin Kou Yanding, von deren Verhaftung Ya, die Leiterin der von Kou gegründeten Kulturstiftung Aiyee, gerade berichtet, ausgerechnet dieser Straftat verdächtigt wird. Die hochgewachsene, schlanke Kou ist – ausser durch ihre eigenen Bücher – vor allem dadurch bekannt, dass sie Bildbände mit Malereien, Kalligrafien und Scherenschnitten körperbehinderter KünstlerInnen herausgibt und bei den meisten chinesischen und Hongkonger Wohltätigkeitsläufen mitmacht, um Geld für erdbebengeschädigte Kinder zu sammeln. Als sie verhaftet wurde, sass sie gerade in der Eisenbahn – auf dem Weg zu dem für Chinas BuddhistInnen heiligen Berg Wutai. Warum also wurde sie verhaftet?
Eine Erklärung geht so: Am 2. Oktober rief die junge Ling Lisha auf dem Campus der Peking-Universität zur Solidarität mit den demonstrierenden Hongkonger StudentInnen auf. Sie wurde verhaftet. Die Kosten für die Flugblätter hatte sich Ling quittieren lassen, und zwar auf den Namen der Organisation Chuanxingzhi, die sich hauptsächlich für mehr Chancengleichheit im Bildungsbereich engagiert. Der Gründer dieser Organisation, Guo Yushan, wurde am 9. Oktober um zwei Uhr morgens in seiner Wohnung verhaftet. «Das hat mit Hongkong nichts zu tun», sagt Pan Haixia, Guos Frau. «Seinen Blog hat er seit über einem Monat nicht mehr aktualisiert, im Internet hat er auch nichts Grosses veröffentlicht, warum sollten sie ihn deswegen verhaften?» Pan vermutet eine späte Rache für Guos Engagement für den blinden Anwalt Chen Guangcheng, der aus seinem Shandonger Hausarrest entkommen und in die Beijinger US-Botschaft geflüchtet war. Kou soll damals Chen in seinem Versteck zusammen mit Guo besucht haben. Aber das «damals» war Ende April 2012.
Eine zweite Erklärung ist, dass es mit der Schliessung der Buchcafés der Liren-Bibliothek zusammenhängt – von der landesweit alle Niederlassungen geschlossen wurden. Warum? «Das Regime hat nie auch nur einen einzigen richtigen Grund genannt», sagt Gründer Li Yingqiang. «Alle Erklärungen können nur mit ‹Ich glaube›, ‹Ich vermute›, ‹Meiner Ansicht nach› beginnen, aber nie mit ‹Der Grund ist›. Selbst ich kann nur raten.»
Allgemein vermutet wird, dass die Zugehörigkeit Lis zu einer protestantischen Hauskirche der ausschlaggebende Faktor gewesen ist. Diese wird verstärkt verfolgt, seit im Mai sechs Mitglieder der Sekte Östlicher Blitz in einer Shandonger McDonald’s-Filiale eine junge Frau erschlugen. Zwar haben die ProtestantInnen mit der Sekte nichts zu tun, aber Kou hielt mehrmals Vorträge in Liren-Bibliotheken. «Doch auch da kann die Regierung höchstens darüber verärgert sein, dass Kou Anwälte lobte, die sich schützend vor NGO-Leute stellen», sagt Ya.
Ein Kompetenzgerangel
Sie sieht die Ursache für das selbst für chinesische Verhältnisse harsche Vorgehen eher darin: «Als Kous Buch ‹Die machbare Demokratie› damals in Südchina den Buchpreis bekommen sollte, wurde dem Auswahlkomitee gesagt, dass das Buch von der Liste gestrichen werden sollte.» Aber ist das denkbar? «Die machbare Demokratie» behandelt Fragen der ländlichen Organisation und Entwicklung, wurde ganz offiziell von der (staatlichen) Zhejiang University Press herausgegeben, hat damals den Buchpreis trotzdem bekommen und ist vor allem immer noch erhältlich – im Gegensatz zu vielen anderen Büchern.
Aber dann sagt Ya noch etwas anderes: «In der Regierung gibt es jetzt grosse Veränderungen. Niemand weiss mehr, wo er in zwanzig Jahren sein wird. Also wollen alle ihre Machtbereiche abgrenzen. Wenn du sagen kannst: ‹Was der oder die machen, ist schlecht›, und die anderen müssen auf dich hören, dann ist das dein Bereich.»
Hat also ein Kompetenzgerangel seit Anfang Oktober über vierzig chinesischen Aktivistinnen, NGO-Gründern und Schriftstellerinnen die Freiheit gekostet? Sicher ist sich Ya natürlich nicht. Mit einem Achselzucken klappt sie ihr Tablet schliesslich wieder zu. Die Höchststrafe für «xun xin zi shi» beträgt fünf Jahre.