Porträt: Sabine von Stockar: Nicht nur Teilchenerfolge

Nr. 21 –

Soll der Atomausstieg klappen, muss sich nicht nur die Technologie ändern, sondern auch wir müssen es tun. Sabine von Stockar, Projektleiterin der Schweizerischen Energie-Stiftung (SES), zielt deshalb auf eine neue Gesellschaft ab.

Energiefachfrau Sabine von Stockar: «Eine Gesellschaft, die auf alles verzichten muss, das kann nicht das Ziel sein.»

«Es geht auch ohne», sagt Sabine von Stockar und löscht das Licht wieder. Dunkelheit erobert die äusseren Winkel des Sitzungszimmers zurück, nistet sich dort ein, wo das Tageslicht nicht hingelangt. Auch in den anderen Räumen im zweiten Stock des Backsteingebäudes am Zürcher Sihlquai brennt kein Licht.

Eine Gesellschaft, die weniger Strom verbraucht, wollen die sechs MitarbeiterInnen der Schweizerischen Energie-Stiftung (SES). Die Organisation, die sich durch private Spendengelder finanziert, setzt sich für eine «intelligente, umwelt- und menschengerechte Energiepolitik» ein. Sie will weg von atomarer und fossiler, hin zu erneuerbarer Energie.

«Für eine bessere Energie-Zukunft» steht auf dem Flugblatt, das von Stockar auf den Tisch legt, noch bevor sie Platz nimmt. Die Projektleiterin «Atomstrom» arbeitet schon seit sechs Jahren für die Stiftung. Lässt Infomaterialien und Flugblätter produzieren, kämpft dafür, dass Politik und Energielobby den Atomkraftausstieg umsetzen. In Fotovoltaik, sagt von Stockar, sollte man jetzt investieren.

«Abstellen reicht nicht»

«Der Atomkraftausstieg muss verbindlich sein», sagt von Stockar am Sitzungstisch. Die Umweltwissenschaftlerin, die sich bei Antiatomenergiedemos nie an Geleise ketten würde, findet es «grob fahrlässig», die Kernkraftwerke Beznau und Mühleberg nicht sofort vom Netz zu nehmen. «Anlagen, die Sicherheitsstandards nicht erfüllen, müssen sofort abgestellt werden», sagt sie, während die Sonne durch das Fenster scheint, auf eine Fotografie mit Tschernobyl-Opfern mit verkrüppelten Gliedmassen.

«Doch die Atomkraftwerke einfach abzustellen, reicht nicht», sagt von Stockar. Neben regenerativen Energien setzt die 33-Jährige vor allem auf «Energieeffizienz». Stromfresser dürfe die Industrie keine mehr produzieren, findet sie. Auch brauche es dringend eine Lenkungsabgabe. Mit einem Anreizsystem, davon ist von Stockar überzeugt, könnten wir auf Kernenergie verzichten, ohne Gaskraftwerke bauen zu müssen.

«Bis spätestens im Jahr 2035 können alle Atomkraftwerke abgeschaltet werden», sagt von Stockar, die gerne Schneeschuh laufen geht. Hoch oben in den Bergen, dort, wo der Mensch ganz klein ist, fragt sie sich nie nach dem Sinn ihrer Arbeit. Alles erscheint logisch. «Wir müssen ein anderes System aufbauen», meint von Stockar, die genauso oft von «wir» wie vom «anderen System» spricht.

«Ich will keine unzufriedene Gesellschaft, in der sich alle gegenseitig kontrollieren», erklärt von Stockar entschieden. Sie dusche gerne ausgiebig, esse Fleisch und ja, sagt sie, bei ihr zu Hause brenne das Licht auch mal in zwei Zimmern. «Eine Gesellschaft, die auf alles verzichten muss, das kann nicht das Ziel sein», sagt sie vor einer Mikrowelle, Modell Intertronic 17 L, Stromverbrauch: 1150 Kilowattstunden.

Aus der Logik heraus

«Ich bin kein Fundi», sagt von Stockar. Mit anderen Meinungen gehe sie locker um. Nur: Eine Meinung gibt es dann doch, die sie kaum akzeptieren kann. Diejenige des Wirtschaftsverbands Economiesuisse, der auch nach der Katastrophe von Fukushima den Bau neuer Atomkraftwerke fordert. Das sture Festhalten an der Kernenergie vergleicht von Stockar mit einem Pilzbefall bei Ameisen. Befällt der Pilz Pandora myrmecophaga nämlich eine bestimmte Ameisenart, kommt es bei den Tieren zu einer auffälligen Verhaltensänderung. Sie klettern Grashalme hoch, beissen sich fest und lassen nicht mehr los, bis sie sterben.

Loslassen kann auch die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle (Nagra) nicht. Die Organisation der Kernkraftwerkbetreiber will, trotz anhaltender Kritik, den Schweizer Atommüll nur die nächsten 150 Jahre überwachen. Weil der Abfall noch Jahrtausende radioaktiv bleibt, findet von Stockar das «sehr kurzsichtig». Zu einer schleichenden Gefahr kann damit auch eine sich ausbreitende Gletscherzunge werden. Überwacht die Nagra das Lager nicht, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass früher oder später Radioaktivität in die Umwelt entweicht.

Politische Unterstützung bekommt von Stockar vor allem von links. Links steht auch sie selbst. So weit links, dass sie beim Ausfüllen der Onlinewahlhilfe Smartvote erschrak. Nicht auf Ideologie allerdings, sondern auf Interesse an der Naturwissenschaft fusst ihr Engagement in der Schweizer Energiepolitik. Wer in der Biografie der Umweltwissenschaftlerin nach Momenten sucht, die sie politisiert haben, sucht vergebens. Ihre klare Haltung formte sich über Jahre. Vertritt von Stockar heute eine linke Energiepolitik, dann nicht, weil sie links, sondern weil sie logisch ist.