Die Drittweltbewegung: Die linke Schule der Nation

Nr. 22 –

Fluchtgeld, Bankenskandale und Schuldenkrise sind zentrale Themen der Gegenwart. Doch sie beschäftigten schon die «Drittweltbewegung». Erstmals ist nun diese wichtige linke Strömung wissenschaftlich erforscht worden.

Wer heute noch von «Drittweltbewegung» spricht, gerät in den Verdacht politischer Naivität, ist doch dieser Begriff längst aus dem modernen Diskurs verschwunden. Dabei prägte diese Bewegung während zweier Jahrzehnte die helvetische Politik stark. Die alte Einteilung der Welt in drei verschiedene Welten ging mit dem Fall der Mauer im Jahr 1989 verloren. Bis zu diesem Zeitpunkt war es noch üblich, von der Ersten Welt (dem Westen), der Zweiten (den sozialistischen Staaten) und der Dritten (den Entwicklungsländern im Süden) zu sprechen. «Dann aber brach eine neue Ordnung an, und die Solidaritätsbewegung zerfiel», resümiert Konrad J. Kuhn. Der Zürcher Historiker und wissenschaftliche Assistent an der Universität Basel hat in einem jüngst erschienenen Werk den Aufstieg einer der grössten und erfolgreichsten sozialen Bewegungen der Schweiz aufgearbeitet.

Die Drittweltbewegung war eine linke Schule der Nation. Tausende von kritisch eingestellten Leuten haben hier den Weg zum politischen Engagement gefunden. Zahlreiche Namen tauchten hier auf, die später die öffentliche Debatte mitbestimmten: Jean Ziegler, Rudolf Strahm, Ueli Mäder, Bruno Gurtner, Annemarie Holenstein, Ginevra Signer, Regula Renschler, Mascha Madörin, Richard Gerster, Peter Bosshard oder Peter Niggli. Weder die Friedens- noch die Antiatomkraftbewegung vermochten, auf Dauer mehr Personen zu bewegen. Höchstens die Umweltbewegung entfaltete eine noch grössere soziale Mobilisierungskraft. Die Macht der Drittweltbewegung ist in Vergessenheit geraten.

Dies auch dank ihres Erfolgs: Die Solidarität mit den Armen der Welt ist mittlerweile in breiten Kreisen verankert wie auch das Bewusstsein, dass die Schweiz an Unterentwicklung und Ausbeutung mitschuldig ist. Nur die Rechte stellt heute die Entwicklungszusammenarbeit infrage.

«Entwicklungsland Schweiz»

Wo aber begann diese Bewegung? Konrad J. Kuhns Buch setzt im Jahr 1970 an. Damals fand die erste grosse Konferenz «Schweiz–Dritte Welt» statt – ein mehrtägiges Treffen im Bundeshaus, das von den Landeskirchen zusammen mit Wirtschaftsverbänden und kritischen StudentInnengruppen organisiert wurde. Dort prallten die Meinungen aufeinander. Die Atmosphäre war turbulent, der 68er-Aufbruch allgegenwärtig. Während der Konferenz kam es gar zu einem Hungerstreik. In der Folge entstanden zahlreiche Solidaritätskomitees und entwicklungspolitische Basisgruppen, unter ihnen die Erklärung von Bern oder die Aktion Finanzplatz Schweiz–Dritte Welt. Es ist der ganze Komplex von NGOs, der noch heute «Entwicklungskuchen» genannt wird.

Einen ersten Höhepunkt erlebte die Bewegung 1975 mit dem bahnbrechenden Bericht «Entwicklungsland Welt – Entwicklungsland Schweiz». Darin forderte eine breite Allianz von Hilfswerken und entwicklungspolitischen Gruppen eine neue Solidarität mit dem unterdrückten Süden. «Entwicklung heisst Befreiung!» lautete die Losung. Die Drittweltbewegung gewann schnell an Breite. Dazu zählten auch die traditionellen Hilfswerke wie etwa Heks, Brot für Brüder oder Fastenopfer. Allerdings gerieten diese zunehmend unter Druck: «Sie wurden von bürgerlich-konservativer Seite für ihre kritischen politischen Stellungnahmen heftig attackiert», analysiert Kuhn. Hilfswerke sollten sich nicht in die Politik einmischen, hiess es. Nur das SP-nahe Schweizerische Arbeiterhilfswerk (SAH) hatte keine solchen Probleme, war es doch im Kampf gegen den Faschismus entstanden. Die Disziplinierung schuf eine doppelte Agenda: Meist schlossen sich die Hilfswerke der linken Kritik an, durften dies aber nicht offen zeigen. So glänzten viele von ihnen am grossen «Symposium der Solidarität», das 1981 im Kursaal Bern stattfand, mit Abwesenheit, obwohl sie dem dort verabschiedeten Manifest für eine andere Entwicklungshilfe des Bundes durchaus zustimmen konnten. Die Auslandshilfe sollte nicht länger von den Wirtschaftsinteressen dominiert sein, sondern der Befreiung der betroffenen Länder dienen.

Im Geflecht der Interessen

Die Drittweltbewegung brachte politische Themen aufs Tapet, die grosse innenpolitische Kontroversen entfachten. Wohl die härteste war der Kampf um die Bankeninitiative zu Beginn der 1980er Jahre. Hier wurde die mächtigste Wirtschaftsinstitution des Landes, die Bankenlobby, frontal herausgefordert (vgl. «Aufklärung versus Gratismütze» im Anschluss an diesen Text). Es ging um Fluchtgeld, das Bankgeheimnis und den Finanzplatz Schweiz, der auch heute noch im Zentrum der Auseinandersetzungen steht. Daraus wird ersichtlich, welch fundamentale Probleme die Drittweltbewegung aufdeckte. Eine weitere Thematik waren das Schuldenproblem und die Forderung nach einem Erlass unter dem Titel «Die Schulden sind bezahlt!». Eine Petition mit 260 000 Unterschriften sorgte zwar dafür, dass die Problematik bis in die 1990er Jahre hinein in die breite Öffentlichkeit kam, «dennoch war das Thema innenpolitisch nur schwer zu vermitteln». Dass es nicht gelang, eine gemeinsame grosse Entschuldungsaktion zu lancieren, schreibt Kuhn den unterschiedlichen Strategien von Hilfswerken und NGOs zu und wertet dies als vergebene Chance.

Wie schwierig es teilweise war, im dichten Geflecht der Interessen klare Positionen zu beziehen, machte die Frage des Beitritts zum Internationalen Währungsfonds und zur Weltbank im Jahr 1992 klar. In der Volksabstimmung mit 55 Prozent Ja-Stimmen gutgeheissen, ging der Frage eine intensive Debatte über ein Referendum voraus, in der die Erklärung von Bern (EvB) eine zentrale Rolle als Meinungsmacherin spielte. Das Deutschschweizer Komitee der EvB wollte das Referendum erst nicht unterstützen, schwenkte dann aber doch ein, als klar wurde, dass die überwiegende Mehrheit der Drittweltbewegung dafür war. Gleichzeitig musste man sich aber von der isolationistischen Rechten abgrenzen, die ebenfalls gegen einen Beitritt der Schweiz zu den Bretton-Woods-Institutionen war. Im Abstimmungskampf liefen die Aktionen unter der Parole «Für eine solidarische Schweiz – Nein zur IWF-Hungerpolitik».

Kuhn wertet diesen verlorenen Kampf als Fanal für einen Umbruch. Denn die Beitrittsfrage hatte nicht nur Hilfswerke und entwicklungspolitische Gruppen gespalten, sondern wegen der grundsätzlichen Frage der internationalen Mitwirkung auch Gräben in den eigenen Lagern aufgerissen. «Das IWF-Referendum war die letzte öffentliche Inszenierung eines entwicklungspolitischen Anliegens in der Schweiz», so Kuhn. Von da an zerfiel die Drittweltbewegung, weil sich die mobilisierbare Basis auflöste: «Nur professionelle Strukturen und Organisationen überdauerten.» Das aber bedeutete keineswegs das Ende der Solidarität. Die NGOs blieben aktiv und konzentrierten sich aufs politische Lobbying statt auf basisbewegte Aktionen. Als Massenbewegung starb die Drittweltbewegung jedoch nach Meinung von Kuhn nicht zuletzt deshalb, weil es nicht mehr gelang, die Menschen für eine umfassende Vision zu begeistern und zu motivieren.

Konrad J. Kuhn: Entwicklungspolitische Solidarität. Die Dritte-Welt-Bewegung in der Schweiz zwischen Kritik und Politik (1975–1992). Chronos Verlag. Zürich 2011. 464 Seiten. 58 Franken

Fluchtgeld und Bankenlobby  : Aufklärung versus Gratismütze

Als eine der härtesten Auseinandersetzungen ging der Kampf um die Bankeninitiative in die politische Geschichte der Schweiz ein. Das Volksbegehren «gegen den Missbrauch des Bankgeheimnisses und der Bankenmacht» wurde 1978 an einem Parteitag der SP beschlossen. Der unmittelbare Anlass war der Chiasso-Skandal der Schweizerischen Kreditanstalt (SKA): Tessiner Bankdirektoren hatten italienische Fluchtgelder mithilfe einer liechtensteinischen Firma in riskante Kredite investiert und einen sagenhaften Verlust von 2,2 Milliarden Franken aufgehäuft.

Der SKA-Skandal erschütterte die Schweiz. Doch lange zuvor hatte die Drittweltbewegung die unsauberen Geschäftspraktiken des Finanzplatzes Schweiz und seine Funktion als globaler Fluchtgeldmagnet angeprangert. Als grosser, polemischer Aufklärer wurde 1976 Jean Ziegler mit seinem Buch «Eine Schweiz – über jeden Verdacht erhaben» berühmt – vor allem im Ausland. In der Schweiz stieg er zum bestgehassten «Nestbeschmutzer» auf. Ziegler schrieb ätzende Sätze wie: «Dank einem krankhaft aufgeblasenen Bankensystem und Einrichtungen wie dem Bankgeheimnis und dem Nummernkonto erfüllt die schweizerische Oligarchie die Hehleraufgabe aufs Vorzüglichste.»

Die Initiative ging der SP leicht von der Hand, war doch Rudolf Strahm ihr Parteisekretär. Strahm war zuvor bei der Erklärung von Bern gewesen und ein Fachmann für Bankenfragen. Die herausgeforderten Banker reagierten mit einem Verhaltenskodex als Selbstregulierung. Gleichzeitig setzte die Bankiervereinigung eine millionenschwere Imagekampagne in Gang. Die SKA polierte ihr ramponiertes Ansehen mit 800 000  blau-weissen Gratismützen auf, die sehr populär wurden. Im «Entwicklungskuchen» entstand 1979 die Aktion Finanzplatz Schweiz–Dritte Welt, die die Bankenkritik bündelte und den «Fluchtgeld-Kurier» herausgab. Vielen Hilfswerken wurde allerdings auch ein Maulkorb angelegt, weil es um eine linke Initiative ging.

Die SP rechnete aus, dass die Kampagne der Werbeagentur Farner die Banken 20 Millionen Franken kostete und die bislang teuerste aller Zeiten war. Im Mai 1984 wurde abgestimmt: 73 Prozent stimmten gegen und nur 27 Prozent für die Initiative. In der Drittweltbewegung herrschte Enttäuschung. Man hatte zwar nicht mit einem Sieg, aber doch mit einem besseren Resultat gerechnet. Den Banken war es gelungen, sich selbst und das Bankgeheimnis wie Berge, Käse und Schokolade als Traditionsbestand der Schweiz zu inszenieren. Trotz Steuerflucht, Potentatengeldern und Geldwäscherei galt das Bankgeheimnis fortan als unanfechtbare schweizerische Institution. Erst heute, dreissig Jahre später, hat sich das geändert.