Thomas Müller, Rorschachs Stadtpräsident: Der Chef von Monaco am Bodensee
In Bern gilt er als Hinterbänkler. In Rorschach aber führt am Stadtpräsidenten und SVP-Nationalrat Thomas Müller kein Weg vorbei. Der Dorfkönig führt sein Reich wie ein Unternehmen. In der Hafenstadt kratzt das allerdings kaum jemanden.
Thomas Müller rauscht ins Bundeshauscafé, setzt ein gewinnendes Lächeln auf, grüsst. Und redet. Der 59-Jährige redet mit allen, er redet mit den Leuten auf der Strasse, er sitzt mit ihnen am Stammtisch und trinkt Bier – statt Wein wie Marcel Fischer, sein Vorgänger als Stadtpräsident. Müller, der Volksnahe, Müller, der Joviale, Müller, der Charmante. Und natürlich, wenn es sein muss: Müller, der Hardliner.
Thomas Müller besitze ein phänomenales Namensgedächtnis, sagt der Rorschacher SP-Präsident Max Bürkler. «Es macht Eindruck, wenn der Stadtpräsident einen mit Namen anspricht und einen kurzen Schwatz hält. Bei ihm hat man rasch das Gefühl, man sei Geheimnisträger.» Anders als sein Vorgänger gilt Müller nicht als schlaffer Buchhalter. Der Eisenbahnersohn, der mit einer deutschstämmigen Brasilianerin verheiratet ist und dessen Vater als Lokomotivführer Vertrauensmann einer christlichen Gewerkschaft war, kennt keine Berührungsängste. Müller redet auch mit der WOZ.
Königlich ist am «König von Rorschach», wie ihn manche halb spöttisch, halb bewundernd nennen, bloss der königsblaue Anzug. So jovial er sich im persönlichen Umgang gibt – vornehme Zurückhaltung und diplomatische Finesse sind Müllers Sache nicht. Hinter den Kulissen könne er sehr direkt und verletzend werden, sagt ein Rorschacher. Müller selbst sagt: «Wir pflegen im Stadtrat einen direkten Umgangston, da dürfte man das Tonband nicht immer mitlaufen lassen.» Aber er scheut auch die grosse Bühne nicht. Als 2009 der deutsche Finanzminister Peer Steinbrück das Bankgeheimnis attackierte, die Schweizer mit Indianern verglich und mit der «Kavallerie» drohte, konterte der Nationalrat aus der Ostschweiz mit einem Nazivergleich und machte Schlagzeilen bis nach Deutschland. Es hagelte Kritik, Müller blieb dabei: Steinbrück erinnere ihn an jene Generation von Deutschen, die vor sechzig Jahren mit Ledermantel, Stiefeln und Armbinde durch die Gassen marschiert seien.
Mit einem echten Nazi hatte er Jahre zuvor weniger Mühe: Kurz nach seiner Wahl ins Stadtpräsidentenamt ehrte die Stadt den 1884 in Rorschach geborenen Oscar-Preisträger und Lieblingsschauspieler Hitlers, Emil Jannings, mit einem auf dem Marktplatz eingelassenen goldenen Stern à la «Walk of Fame». Als es Proteste hagelte, liess Müller den Stern rasch entfernen.
Die Liste der Negativschlagzeilen setzt sich bis in die jüngste Zeit fort. 2010 deckte der «Beobachter» eine für Müller peinliche Erbteilungsgeschichte auf, die er als Anwalt über Jahre verschlampt hatte. Er redet sich wie folgt heraus: «Ich hatte viel um die Ohren nach meiner Wahl zum Stadtpräsidenten. Es ist ja niemand zu Schaden gekommen. Es verletzt mich, dass diese Geschichte immer wieder aufgewärmt wird.» Anfang 2011 lief der Nationalrat von der CVP zur SVP über – und teilte das seiner Partei, deren Farben er vierzig Jahre lang hochgehalten hatte, via «SonntagsBlick» mit. Er begründete seine Fahnenflucht damit, dass er seine politischen Anliegen in der SVP wirkungsvoller vertreten könne. Andere sagen, er habe wegen der schwächelnden CVP bloss Angst vor einer Abwahl gehabt. Wahr ist: Müllers Politstil ist zweifelsfrei SVP-kompatibel.
Und dann ist da noch die Sache mit dem Geld. Nach Müllers Parteiübertritt kam ans Tageslicht, dass er der CVP während drei Jahren Parteibeiträge vorenthalten hatte. Er stand mit 15 000 Franken in der Kreide. Auch diese Sache sei inzwischen bereinigt, sagt Thomas Müller der WOZ.
Die Lohnfrage
Auch auf lokaler Ebene war Geld ein Thema, nämlich Müllers Einkünfte als Nationalrat. Als der «Blick» im Jahr 2008 die Löhne von Stadt- und Gemeindepräsidenten thematisierte, sagte Thomas Müller gegenüber dem «St. Galler Tagblatt», er beziehe als Stadtpräsident ein Gehalt von rund 200 000 Franken. Seine Funktion als Nationalrat ändere an dieser Zahl nichts: «Zusätzlicher Verdienst fliesst in die Stadtkasse.» Fragt sich bloss, was er unter «zusätzlichem Verdienst» versteht. Damals führte er 21 000 Franken seiner Einkünfte als Nationalrat in die Stadtkasse ab, aktuell sind es rund 25 000 Franken. Gemäss dem Besoldungsreglement der Stadt Rorschach für vollamtliche Behördenmitglieder müssen diese sämtliche pauschalen Entschädigungen in die Stadtkasse abliefern. Der WOZ liegen Protokolle vor, die eine Auseinandersetzung des Stadtrats und der Geschäftsprüfungskommission (GPK) in dieser Frage dokumentieren. Uneins waren sie sich darüber, was unter pauschalen Entschädigungen zu verstehen sei. Der Stadtrat bezog dies lediglich auf die als nationalrätliches Jahreseinkommen deklarierte Entschädigung. Die Geschäftsprüfungskommission stellte sich die Frage, weshalb dies nicht für die Taggeldpauschalen (Sitzungsgelder) und die pauschale Vorsorgeentschädigung von 9288 Franken gelte. Dann nämlich hätte Müller einige zehntausend Franken mehr in die Stadtkasse abliefern müssen.
Damals war laut Reglement in Auslegungsfragen abschliessend die GPK zuständig. Der Stadtrat hob das alte, vom inzwischen abgeschafften Gemeindeparlament beschlossene Reglement auf. Damit war die Streitsache vom Tisch, aber noch nicht ganz erledigt. Im vergangenen Jahr brachten GPK-Mitglieder die Sache in der Bürgerversammlung nochmals aufs Tapet. Müller konterte, indem er seine Einkünfte offenlegte. Es gab keine Diskussion. Ein Kritiker sagt, bloss noch die Müller-Fangemeinde besuche die Bürgerversammlung. Müller sieht dies als Versuch «der immer gleichen wenigen Linken», eine Neiddebatte vom Zaun zu reissen. Er trage schliesslich Verantwortung, arbeite für sein Geld hart, bis zu achtzig Stunden in der Woche, und zähle zu den zehn besten Steuerzahlern der Stadt.
Thomas Müller redet gerne und ausführlich über seine Stadt, darüber, wie es in seiner Amtszeit wieder aufwärtsgehe. Rorschach habe den «Turnaround» geschafft. Leistung muss sich lohnen, erst recht für einen erfolgreichen Stadtpräsidenten: Müller bekam für seinen juristischen Beistand bei der Auflösung der Pensionskasse der Stadt Rorschach eine Leistungsprämie von 5000 Franken.
Parteien kaltgestellt
Die KritikerInnen Müllers haben tatsächlich einen schweren Stand. Nach einer langen Phase des Niedergangs – Rorschach litt unter Abwanderung, wirtschaftlicher Stagnation und Parteiengezänk – geht es langsam wieder aufwärts mit der Hafenstadt. Ehe Müller gewählt wurde, lancierten Gewerbekreise die Abschaffung des Stadtparlaments – und kamen damit an der Urne durch. Dann verpasste der frisch gewählte Stadtpräsident der Stadtverwaltung die Strukturen eines Unternehmens und verwirklichte einen neoliberalen Traum im Kleinformat. Er schaffte fast alle Kommissionen ab und brach damit die Macht der lokalen politischen Parteien. Sie sind kaltgestellt. Er sagt tatsächlich: «Hier sind politische Parteien überflüssig. Das sind doch auch bloss Vereine wie der Gewerbe- oder der Kulturverein. Weshalb sollen die mehr Einfluss haben?» Die Stadträte führen keine Departemente mehr – sie sind jetzt eine Art Verwaltungsrat. Es gibt bloss noch zwei Ressorts – Stadt und Schule. Abteilungsleiter bilden eine Geschäftsleitung. Gegen aussen vertritt nur einer die Stadt – der Vorsitzende Müller. Und daher hat der derzeitige Aufschwung vor allem ein Gesicht – das von Müller.
Die RorschacherInnen sind offensichtlich zufrieden damit. Müller sitzt fest im Sattel. Selbst ein harter Kritiker des Stadtpräsidenten sagt: «Im Nachhinein war seine Wahl richtig. Es brauchte einen Bulldozer wie ihn. Aber jetzt ist seine Machtfülle zu gross. Er sollte abtreten.»
Doch der Stadtpräsident wird seinem Kritiker diesen Gefallen nicht tun. Seit Müllers Amtsantritt vor knapp zehn Jahren ist der Ausländeranteil im multikulturellen Rorschach weiter gestiegen – auf weit über vierzig Prozent –, die Nettoverschuldung der Gemeinde von fünfzig Millionen auf rund acht Millionen gesunken, ebenso der Steuerfuss. Der Gestaltungsspielraum wachse, sagt der Stadtpräsident. Und damit die Aussicht auf eine Fusion mit den umliegenden, steuergünstigen Gemeinden. Dann könnte eine Seestadt entstehen mit 30 000 EinwohnerInnen. Das ist Müllers Vision: «Wenn ich in Pension gehe, möchte ich meinem Nachfolger den Rathausschlüssel dieser neuen Stadt in die Hand drücken.»
Hochhäuser und ein Weltkonzern
Rorschachs Aufschwung ist nicht allein Müllers Verdienst. Aber der gut vernetzte, zupackende und gestaltungsfreudige Politiker hat die Bevölkerung hinter sich geschart. In Rorschach wird wieder gebaut. Kräne ragen aus den Dächern der 1,78 Quadratkilometer grossen Gemeinde, «exakt so gross wie Monaco», sagt Müller, der Rorschach als Riviera der Ostschweiz imaginiert. Die Stadt ist ohnehin dicht bebaut, es gibt bloss wenige Brachen. Wenn Rorschach, das derzeit knapp 9000 EinwohnerInnen zählt, einst wieder über 10 000 EinwohnerInnen haben soll, leben hier mehr Menschen pro Quadratkilometer als in Zürich.
Auf einem ehemaligen Industriegelände stehen bereits zwei Hochhäuser, ein drittes ist geplant – Eigentumswohnungen und Wohnungen mit Seesicht. Sie sollen gute SteuerzahlerInnen anlocken. Draussen beim Hauptbahnhof direkt am Seeufer steht Müllers ganzer Stolz – das Hauptquartier des Weltkonzerns Würth im Rohbau. Ab April 2013 wird in der Würth-Zentrale gearbeitet. Zunächst entstehen 250 Arbeitsplätze. Es könnten bald 500 sein. Die Ansiedlung des Konzerns, der einem in Deutschland verurteilten Steuerhinterzieher gehört, kostet etwas. Der Konzern geniesst laut gut unterrichteten Quellen in den nächsten zehn Jahren erhebliche Steuervergünstigungen, die allerdings an Arbeitsplatzgarantien geknüpft seien. Auf einem Grundstück der Stadt soll gleich nebenan ein Hotel entstehen. «Ich habe einen institutionellen Anleger als Investor und eine global tätige Hotelkette als Pächterin an der Hand. Es werden bereits erste Pläne gezeichnet», sagt Müller. Wenn er über Investoren und den Turnaround spricht, ist er in seinem Element. Müller und der Stadtrat überzeugten die Bevölkerung von den nötigen Umzonungen für die Ansiedlung von Würth und den Bau der Hochhäuser. Die Zustimmung an der Urne war hoch. Im Stadtzentrum, gleich neben der neuen Migros-Überbauung, werden bald Häuser abgerissen und ein weiteres Geschäftshaus gebaut. Eine Ostschweizer Ladenkette siedelt sich an.
Müller redet und redet von der «Idee Rorschach», vom bevorstehenden Ausbau der SBB-Haltestelle in der Stadt zum Stadtbahnhof, von der Untertunnelung des Stadtzentrums und dem Autobahnanschluss. Er spricht davon, wie er als Nationalrat direkten und einfachen Zugang zu wichtigen Informationen und Beamten in Bundesbern hat – Müller, der Doppelmandatar, ganz im Dienste der Stadt Rorschach, rund um die Uhr, auch sonntags, wenn es sein muss. Müller hat Erfolg. Dafür ist er ziemlich dünnhäutig. Hinter Kritik wittert er Verschwörungen, dann verdüstert sich seine Miene, dann wirkt er gequält. Er möchte gelobt und geliebt werden und als grosser Stadtpräsident in die Geschichte Rorschachs eingehen. Als die WOZ ihn für das Gespräch anfragte und auf die Diskussion um sein Gehalt verwies, sagte er zu und mailte zurück: «Das Thema wird von einem halben Dutzend SP-Vorstands-Mitglieder regelmässig aufgenommen und ich gehe davon aus, dass diese bei der WOZ vor dem Wahlherbst einen Bericht bestellt haben. Sie sollen, wie mir zugetragen wurde, über einen eigenen Kandidaten fürs Stadtpräsidium nachdenken und wollen das offenbar orchestrieren.» Einer sitzt fest im Sattel, und doch plagen ihn Ängste. Sonst ist Müller übrigens ein strammer Parteisoldat. Er stimmte bei der aktuellen Asylgesetzrevision zuverlässig auf Parteilinie.