Zürcher Stadtratswahlen: Der telegene Laie ist parat
Der ehemalige «Arena»-Moderator Filippo Leutenegger kandidiert für das Zürcher Stadtpräsidium. Allerdings hat der hemdsärmelige FDP-Politiker seine besten Zeiten hinter sich.
Es steht nicht gut um den Zürcher Freisinn. Jedenfalls nicht, wenn es ihm so geht wie der FDP Kreis 2. An diesem grauen Abend im Dezember haben nur wenige an den Apéro der Weber Dach AG in Wollishofen gefunden. Gut die Hälfte der Anwesenden kandidiert für den Zürcher Gemeinderat, die andere Hälfte gehört zur Belegschaft des Betriebs.
Ein unbekanntes Gesicht wird sofort bemerkt, hoffnungsfroh als potenzielles Neumitglied angegangen: «Wie haben Sie denn den Weg zu uns gefunden? Interessieren Sie sich für den Freisinn?» Die Journalistin gibt sich nach einigem Zögern als solche zu erkennen. «Für welche Zeitung? Für die WOZ? Jä so. Mein Vater war früher auch Kommunist. Jetzt ist er bei der SVP. Kommen Sie, ich stelle Sie gleich vor. Filippo, Filippo, da ist eine Dame von der WOZ.»
Filippo Leutenegger, in ein Gespräch vertieft, schaut auf, schüttelt zunächst etwas skeptisch die Hand, geht aber gleich zum jovialen Du über. Jovial. Ein Wort, das unweigerlich mit Filippo Leutenegger verbunden wird. Jovial und hemdsärmelig, so wird er oft bezeichnet, und so gibt er sich auch gerne. «Einer von uns» halt, so der Slogan seiner Wahlkampagne für das Amt des Zürcher Stadtpräsidenten. Doch wer sind «wir», wenn Filippo Leutenegger einer von «uns» sein will?
«Weniger Staat, mehr Schweiz»
An diesem Abend ist Filippo Leutenegger unter seinesgleichen. Auftritt Moritz Weber, Geschäftsinhaber der Weber Dach AG: «Lieber Filippo, ich wünsche dir und Zürich, dass du gewinnst und Stapi wirst. Aber ich wünsche es Zürich noch mehr als dir.» Vergnügtes Lachen.
Doch dass Filippo Leutenegger nicht bei allen seiner Partei so beliebt ist wie bei der FDP Zürich 2, ist kein Geheimnis. Thomas Wagner, der letzte Zürcher FDP-Stadtpräsident, bevor die SP 1990 das Zepter übernahm, sitzt im offiziellen Unterstützungskomitee von Leuteneggers Konkurrentin, der amtierenden SP-Stadtpräsidentin Corine Mauch. Wagner sagte den Medien gegenüber offen, dass er Leutenegger für einen ungeeigneten Kandidaten halte, nicht zuletzt, weil dieser näher bei der SVP politisiere als bei der eigenen Partei.
Ein Ruf, der Leutenegger anhaftet, seit er 2002 der FDP beitrat, nachdem er als «Arena»-Moderator seine politische Gesinnung als ein «Geheimnis zwischen meinen Schamhaaren» bezeichnet hatte. 2003 wurde er mit einer aufwendigen, Schätzungen zufolge mindestens 200 000 Franken teuren Kampagne und dem Slogan «Weniger Staat, mehr Schweiz» mit dem zweitbesten Resultat in den Nationalrat gewählt. Der arrivierte Freisinn mochte sich nicht recht freuen über den Erfolg des Politparvenüs und Freunds von Christoph Blocher, stieg er doch nach seiner Wahl recht hemmungslos mit der SVP ins Bett, engagierte sich mit ihr in den Komitees gegen die Mutterschaftsversicherung und gegen das Schengen-Abkommen.
Sozialstaat ohne Staat
Heute wird Leutenegger hinter vorgehaltener Hand als «einziger wählbarer Kandidat der SVP» gehandelt. Die Klatsche vom letzten Frühling, als der Alternative Richi Wolff den Sitz des abtretenden Freisinnigen Martin Vollenwyder ergatterte, brennt noch immer auf der Wange der Zürcher FDP. Seither sind sieben von neun StadträtInnen links-grün, die FDP und die CVP stellen nur noch je einen Stadtrat.
Auf dem lokalen Politparkett hat Filippo Leutenegger keine Erfahrung, und auch im Nationalrat gehen kaum nennenswerte Vorstösse auf ihn zurück, abgesehen von konsequenten Attacken gegen seine frühere Arbeitgeberin SRG. Doch Leutenegger ist telegen, hat ein Gesicht, das man kennt, und die Wählerstärke der FernsehzuschauerInnen ist nicht zu unterschätzen. Er kommt an bei SVP-WählerInnen und vielleicht auch bei der urbanen Mitte, mit seinem gutväterlichen Schmunzeln auf den Plakaten und seiner Vespa, die der «Umweltfreak», als den er sich selbst gern bezeichnet, mittlerweile gegen einen Elektroroller ausgetauscht hat.
Nun also Zürich. Für die seit über zwanzig Jahren von der SP regierte Stadt versucht er, sich ein soziales Mäntelchen überzuziehen. Er sei durchaus ein sozial denkender Mensch, sagt Leutenegger über sich selbst. Doch das Mäntelchen will nicht recht passen. Zürich schlittert seiner Ansicht nach in den finanziellen Ruin, alleinige Schuld daran hat ein aufgeblähter Staat. Die durch die Bankenkrise verursachten kumulierten Steuerausfälle in der Höhe von 600 Millionen Franken in den Jahren 2008 bis 2010 übergeht er geflissentlich. Steuererhöhungen kommen natürlich nicht infrage, vielmehr sollen staatliche Leistungen auf allen Kanälen zurückgefahren und Stellen abgebaut werden. Filippo Leutenegger träumt von einem Sozialstaat ohne Staat, die Leistungen werden durch Gratisarbeit erbracht.
So zum Beispiel in der Kinderbetreuung. Er, Gründer einer Kinderkrippe im Leutschenbach und eines Kinderhorts in seiner Liegenschaft an der Forchstrasse, will die staatlichen Ausgaben für Kinderbetreuung massiv reduzieren. Für jemanden, der von «Überbetreuung» spricht, ist das wohl kein Problem. Leutenegger möchte Tagesschulen einführen, die jedoch nur von 8 bis 15 Uhr offen sind. Danach sollen Seminaristen und Studentinnen freiwillig Hausaufgabenhilfe anbieten. Über Mittag wird ein «einfacher Lunch» für sieben Franken angeboten, den die Eltern selbst berappen sollen. Das Thema kann Leutenegger in Rage versetzen: «Es ist sinnlos, dass der Staat das Mittagessen meiner Kinder bezahlt. Es ist doch meine ureigenste Aufgabe, meine Kinder selbst zu ernähren, solange ich das selber kann.»
Wenn Leutenegger laut wird, dann poltert er nicht. Nein, man sagt, es sei halt die Italianità, das südländische Temperament, das mit ihm durchgehe. Leutenegger verbrachte seine Kindheit als Diplomatensohn in Rom. Nach der Internatszeit in Disentis und Altdorf studierte er Wirtschaft und Jus in Zürich. In dieser Zeit verkehrte Leutenegger in linken Kreisen. Allseits bekannt ist das Foto, das ihn an einer Demo gegen das AKW Gösgen zeigt: «der schöne Filippo», wie er genannt wurde, mit offenem Hemd und Schutzbrille um den Hals. Schon damals habe er über einen ungestümen Drang verfügt, sich in Szene zu setzen, erinnern sich WeggefährtInnen. Er selbst möchte seine bewegte Zeit am liebsten allein unter dem Kapitel Umweltaktivismus verbuchen. Mit dem Label «links» tut er sich schwer. Ehemalige MitarbeiterInnen erinnern sich auch an seine ideologieschwangeren, kapitalismuskritischen Texte in der Studierendenzeitung «Das Konzept».
1979/80 war er bei der Gründung der WOZ dabei. Er engagierte sich nicht in der Redaktion, aber bei der Ausarbeitung der Finanzierungsstrukturen. Zur gleichen Zeit arbeitete er bei der Schweizerischen Kreditanstalt als Betriebswirtschafter, bevor er seine Karriere beim Schweizer Fernsehen startete, als «Arena»-Moderator schweizweit bekannt wurde und Dauergast Christoph Blocher und dessen Partei salonfähig machte. Nach seiner unrühmlichen, fristlosen Entlassung 2002 als Chefredaktor des Schweizer Fernsehens wurde er Geschäftsführer der Jean Frey AG, 2011 dann Verwaltungsratspräsident und Verleger der Mediengruppe «Basler Zeitung».
Leutenegger inszeniert sich auch heute noch gerne als Energiefachmann. Bei jeder Gelegenheit macht er seinem Ärger öffentlich Luft darüber, dass er eine seiner Liegenschaften nicht abreissen durfte, wo doch ein Neubau viel energieeffizienter wäre. Der Zürcher Wohnungsknappheit will Leutenegger in erster Linie damit begegnen, dass in der ganzen Stadt eine Etage höher gebaut werden darf. Gleichzeitig wehrt er sich vehement gegen die Auflage in der neuen Bauzonenordnung, die vorsieht, dass bei Um- und Aufzonungen auch Private Mindestanteile an preisgünstigem Wohnen zur Verfügung stellen müssen.
Auf dem absteigenden Ast
Warum kandidiert Filippo Leutenegger als Stadtpräsident? Aus Geltungsdrang, sagen die einen. Er brauche einen Job, eine Aufgabe, die anderen. «Ich hatte viel Glück im Leben, auch wenn ich ein paarmal auf den Grind bekommen habe», sagt Filippo Leutenegger Anfang Januar in den Räumen seines Verlags Neue-ideen.ch AG in Zürich Wipkingen. «Ich möchte mich engagieren für meine Stadt, in der ich seit vierzig Jahren lebe. Ich möchte nun etwas zurückgeben. Mit 61 bin ich noch gar nicht müde.» Die Neue-ideen.ch AG gibt das «Hausmagazin» heraus, das in der Aufmachung einer Werbebroschüre daherkommt. Leutenegger verweist gerne auf die grosse Auflage, es wird an alle Einfamilienhäuser der Deutschschweiz verteilt.
Doch dies mag nicht darüber hinwegtäuschen, dass Filippo Leutenegger schon bessere Zeiten gesehen hat. Seine aufgewärmte «Politarena» während des Nationalratswahlkampfs 2011 auf Sat 1 Schweiz – aufgezeichnet in den Lobster Studios in Schlieren, die früher Blochers Robinvest gehört hatten – verzeichnete nur laue Einschaltquoten. Vergangenen Herbst wurde er bei der «Basler Zeitung» kaltgestellt. CEO Rolf Bollmann übernahm die operativen Geschäfte und Leuteneggers Büro. «Wenn man als Journalist den SVP-Stempel hat, ist man in der Branche gewissermassen zum Abschuss freigegeben. Ich kann damit aber schon längst leben», sagt er heute.
Im Zeitungsständer im Entree seines kleinen Verlags ist nur die «Weltwoche» zu finden. In der Ecke seines Büros steht ein Kleiderständer mit verschiedenen gestreiften Krawatten und weissen Hemden, noch in der Plastikfolie der Wäscherei, abends ist wieder eine Wahlkampfveranstaltung. Bis zum Wahlsonntag am 9. Februar wird Leutenegger noch viel in der Stadt unterwegs sein. Es bestehen durchaus Chancen, dass er in den Stadtrat gewählt wird. Er selbst wird sich auch als Stapi wählen.
Und Filippo Leutenegger wird Nein stimmen zur SVP-Initiative. Es gehe nicht an, die bilateralen Verträge zu gefährden, wo doch die Drittstaatenregelung das viel grössere Problem sei, speziell der Familiennachzug: «Die Leute geraten oft direkt ins Sozialsystem, das belastet die Gesellschaft und die Finanzen.»