Gertrud Kurz (1890–1972): Gegen die Abschottungspolitik der Schweiz

Nr. 26 –

Die Erinnerung an ihr humanitäres Engagement ist heute wichtiger denn je: Vor vierzig Jahren starb die als «Flüchtlingsmutter» bekannte Gertrud Kurz. Zeit ihres Lebens kämpfte sie, emotional und politisch, für eine globale Gerechtigkeit.

Die Stiftung Gertrud Kurz in Bern kümmert sich nicht nur um das Gedenken an eine der bekanntesten humanitären Helferinnen der Schweiz. Sie unterstützt auch aktuelle Projekte im Bereich der Flüchtlingshilfe. «Wir fördern zum Beispiel die Integration von Sans-Papiers», sagt Jürg Meyer, langjähriges Mitglied des Stiftungsrats. Die Befähigung, sich in eine gesellschaftliche Ordnung einfügen zu können und sich darin zurechtzufinden, sei auch für jene Menschen wichtig, die nicht hierbleiben könnten.

«Die Schweiz braucht heute mehr denn je die Erinnerung an Gertrud Kurz», sagt Meyer. Er spricht von einer Eskalation in der Flüchtlingspolitik und meint damit die jüngsten Verschärfungen des Asylrechts durch die eidgenössischen Räte. Ist denn die Erinnerung an die bekannte «Flüchtlingsmutter» verblasst? «Nein», sagt Meyer, in breiten Kreisen seien ihr Name und ihr Engagement während und nach dem Zweiten Weltkrieg weiterhin bekannt. Was Meyer aber bemängelt, ist die Reduktion der historischen Figur auf den Aspekt der emotionalen Hilfe. «Die politische Dimension ihres Handelns wird vernachlässigt, der Bezug zur Gegenwart unterbleibt.»

Gertrud Kurz hätte heute wohl nicht anders gehandelt als damals und gegen die inhumane Politik rebelliert. Kurz wuchs als Tochter eines Fabrikanten und Oberrichters in bürgerlichen Verhältnissen im Appenzeller Vorderland auf – einer Gegend, aus der mit dem Judenretter Carl Lutz aus Walzenhausen und dem «Armeniervater» Jakob Künzler aus Hundwil auch andere Menschen stammten, die sich humanitärer Hilfe verschrieben. Ihr späteres Wohnhaus am Sandrain in Bern war offen für Menschen am Rand der Gesellschaft. Sie machte in der religiösen «Kreuzritter»-Friedensbewegung mit, und als der Faschismus in den dreissiger Jahren immer mehr Menschen in die Flucht trieb, fand sie ihre Hauptbetätigung in der Betreuung von Flüchtlingen und Asylsuchenden.

Interventionen bei der Fremdenpolizei

Damit stand sie quer zur offiziellen Abschottungspolitik der Schweiz, die damals wie heute von der Rechten betrieben wurde. Mit ihren Direktinterventionen bei der Fremdenpolizei zugunsten einzelner Flüchtlinge machte sie sich in der Bürokratie nicht beliebt. Doch sie respektierte den bürgerlichen Konsens und vermied die Konfrontation mit den Behörden. Sie setzte auf individuelles Mitgefühl und Menschlichkeit, was ihr bald grosse Anerkennung in breiten Kreisen einbrachte. Kurz pflegte Kontakte zu religiös Engagierten wie Pfarrer Paul Vogt oder dem Theologen Karl Barth, die ebenfalls im Dissens zur offiziellen Politik standen. Das Netzwerk, das sie aufbaute, legte den Grundstein für ihr eigenes Hilfswerk, den Christlichen Friedensdienst (cfd). 1947 gegründet, ist der cfd heute als feministische Friedensorganisation immer noch in der Migrationspolitik aktiv und koordiniert seit einigen Jahren die Kampagne Gegen Gewalt an Frauen.

Legendär wurde Gertrud Kurz’ Besuch bei Bundesrat Eduard von Steiger im Jahr 1942 nach der totalen Grenzschliessung. Sie erreichte dabei eine vorübergehende Lockerung der inhumanen Rückweisungspraxis vor allem gegenüber jüdischen Flüchtlingen. In zahlreichen Vorträgen berichtete sie über die Judenverfolgung in Europa und forderte eine weniger restriktive Flüchtlingspolitik. Nach dem Krieg engagierte sich Kurz in der Friedens- und Dritte-Welt-Bewegung. In den sechziger Jahren setzte sie sich für algerische Flüchtlinge ein, und als 1974 nach dem Putsch gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende chilenische Flüchtlinge in die Schweiz kamen, war sie erneut zur Stelle.

Eine Vision

Im konsequenten Einsatz für die Ausgegrenzten, die unsichtbar Gebliebenen und die Menschen ohne Stimme liegt die Aktualität von Gertrud Kurz begründet. Kurz habe zeit ihres Lebens für die Vision einer globalen Gerechtigkeit gekämpft, halten Neela Chatterjee und Rohit Jain, die beiden KopräsidentInnen der Stiftung, in den jüngsten «Kurz-Nachrichten» fest. Und sie verweisen darauf, dass sich im Grunde nicht viel geändert hat: «Die Abwehr des anderen ist fundamental in unserem nationalstaatlichen Denken angelegt. Dies ist der Boden, auf dem Rechtspopulismus und Fremdenfeindlichkeit überhaupt gedeihen können.» In einer Welt von transnationaler Mobilität müssten dringlich neue Vorstellungen davon entwickelt werden, wie Bewegungsfreiheit, politische Rechte und Staatsbürgerschaften ausserhalb nationalstaatlicher Kategorien gestaltet und organisiert werden könnten.

Gertrud Kurz erhielt für ihr humanitäres Engagement 1956 das Ehrenzeichen des Deutschen Roten Kreuzes. Vier Jahre später verlieh ihr die Universität Zürich den Ehrendoktor in Theologie. 1965 wurde sie auch mit der Albert-Schweitzer-Medaille ausgezeichnet. Ein Gedenken an Gertrud Kurz kann nicht ohne kritischen Bezug zur aktuellen Asylpolitik bleiben. Ist es deshalb so still um «Mutter Kurz» geworden, wie sie einst von ihren Schützlingen genannt wurde?