Pflege- und Heimkinder: «Tschüss, Ende!»

Nr. 2 –

Für junge Menschen endet das Leben in der Obhut einer Institution oder Pflegefamilie oft abrupt. Ehemals Betroffene setzen sich mit einem Verein dafür ein, dass kommende Generationen mehr Unterstützung erhalten.

Sozialbegleiterin Rose Burri
Mit zwanzig vor die Tür des Wohnheims gestellt: Sozialbegleiterin Rose Burri hat ähnliche Erfahrungen gemacht wie die Menschen, die sie heute berät.

Ein Schild weist den Weg von der dicht befahrenen Strasse hinauf in helle Büroräumlichkeiten. Hier in Winterthur setzt sich der Verein Careleaver Schweiz seit 2021 für Jugendliche und junge Erwachsene ein, die einen Teil ihres Lebens in betreuten Wohngruppen, Kinderheimen oder Pflegefamilien verbracht haben. Nach Abschluss ihrer Lehre, bei Erreichen der Volljährigkeit oder schlicht nach Reglement der jeweiligen Einrichtung haben sie den Anspruch auf einen Heimplatz oder betreutes Wohnen verloren. Der Übergang ins selbstständige Leben gestaltet sich oft sehr schwierig. Diese Situation der Careleaver:innen will der Verein stärker ins Licht rücken.

Bebt die Tür zur ersten eigenen Wohnung noch leicht vom Zuschlagen, schliesst sich auch schon der Zugang zu staatlicher Unterstützung. Careleaver Schweiz stösst diesen Zugang zumindest einen Spalt breit wieder auf. An diesem Tag öffnet Rose Burri, Kopräsidentin und Mitgründerin des Vereins, die Tür für Emma Meier*. Die 26-Jährige steht zum ersten Mal im Büro der Organisation, deren Netz sich mittlerweile über weite Teile der Schweiz spannt. Hier auf offene Ohren zu stossen, sei sehr wertvoll, sagt Meier. Nicht nur, wenn es um Alltagspraktisches geht: «Es nimmt wahnsinnig viel Druck, zu wissen, dass mein Gefühl nicht falsch ist und es wirklich ein Thema sein darf, wie schwer der Übergang ins Erwachsenenleben für mich war.»

Von null auf hundert

Der Spruch «Jeder hat seinen Rucksack!», sagt Rose Burri, sei eine Phrase, die sie – selbst ein ehemaliges Heimkind – in der Anfangszeit ihrer Vereinsarbeit oft gehört habe. Natürlich stimme das, «aber die Qualität der Rucksäcke ist unterschiedlich». Bei manchen könne er viel Gewicht tragen. «Derjenige von Careleaver:innen aber ist meist sehr instabil, rissig und durchgetragen.»

Auch Emma Meier trug einen solchen Rucksack. Aufgewachsen ist sie mit einem suchtkranken Vater, der an einer bipolaren Persönlichkeitsstörung leidet, einem emotional instabilen Stiefvater, der sie kontrollieren wollte, und einer Mutter, die irgendwo dazwischen stand, hilflos und selbst in dieses Beziehungsgeflecht verstrickt, sodass sie sich nicht für ihre Tochter starkmachen konnte. «Ich wollte als Kind schon früh in ein Internat, um nicht bei meiner Familie leben zu müssen», erzählt Meier. «Doch als Gymischülerin mit guten Noten war mein Leiden zu wenig offensichtlich.» Entsprechend ihrer perfektionistischen Art habe sie zumindest das wenige steuern wollen, das sie unter ihrer Kontrolle hatte. Als sie, mittlerweile siebzehnjährig, dank ihrer Psychotherapeutin und des Mitarbeiters einer niederschwelligen Beratungsstelle endlich einen Platz in einer Institution für betreutes Wohnen erhielt, sei das eine grosse Erleichterung gewesen.

Vorstösse in Bundesbern

Careleaver Schweiz hat zusammen mit dem Kompetenzzentrum Leaving Care, wo auch die parlamentarische Gruppe «Care Leaving – ehemalige Heim- und Pflegekinder» angesiedelt ist, auf Bundesebene drei weitere politische Vorstösse formuliert.

Statistische Erfassung von Careleaver:innen: Durch eine Datenerhebung soll sichtbar gemacht werden, wie viele junge Menschen jährlich betreute Situationen im Rahmen der kantonal geregelten Kinder- und Jugendhilfen verlassen. Der Bundesrat hat die Datenerhebung veranlasst, entsprechende Berichte werden den kantonalen Verbindungsstellen vorgelegt.

Forderung eines Careleaver-Status: Mit einer Petition, für die noch Unterschriften gesammelt werden, sollen die Hürden zwischen Ämtern und Careleaver:innen abgebaut und Chancengleichheit ermöglicht werden.

Sicherung der Wohnsituation: Der Austritt aus dem System der Kinder- und Jugendhilfe soll sich am individuellen Bedarf der jungen Menschen orientieren und nicht an ein bestimmtes Alter oder den Lehrabschluss gekoppelt sein. Dieser Vorstoss wird noch im Rat behandelt.

Rose Burri nickt immer wieder, während Emma Meier erzählt. Die 35-jährige Sozialbegleiterin kennt viele solche Geschichten des Aufwachsens ohne festen Boden unter den Füssen. Sie selbst ist wie alle Mitwirkenden von Careleaver Schweiz nicht davon ausgenommen. Ihre Kindheit war geprägt von den psychischen Problemen der Mutter, von verschiedenen Pflegeeltern, einem Sonderschulheim und einem Wohnheim, das sie als Zwanzigjährige verlassen musste.

«Tschüss, Ende!»: So habe sich das damals angefühlt – von null auf hundert auf eigenen Beinen. Natürlich seien auch junge Erwachsene aus behüteten Verhältnissen oft nicht allen Anforderungen gewachsen, um ihr Leben selbstständig zu managen, sagt sie. «Aber sie haben in der Regel Eltern im Hintergrund, die sich für sie einsetzen und ihnen Sicherheit geben.» Sich am Sonntagabend bei den Eltern zum Nachtessen einladen lassen und über die Herausforderungen des Alltags sprechen? Kurz anrufen, wenn man mit einer Magen-Darm-Grippe im Bett liegt und Zwieback braucht? Davon konnte auch Burri nur träumen. Zwar fand sie bald nach ihrem Heimaustritt eine Arbeitsstelle, ihr soziales Netz jedoch glich einem Flickenteppich. Die Negativspirale begann, sobald sie allein zu Hause war.

«Man kann dich nicht gernhaben»: Diesen Satz ihrer Mutter aus ihrem Herz zu schleifen, habe sie viele Therapiejahre gekostet. Sich nicht erwünscht zu fühlen, das Gefühl zu haben, nicht zu genügen, die Angst, etwas falsch zu machen – all das zusammen sei wie ein grosser, schwerer Stein im Rucksack von Careleaver:innen. Unter dessen Last blase sich gross und drückend immer wieder die Frage auf: «Warum bin ich eigentlich hier auf dieser Welt?»

«Fall Emma» ad acta gelegt

Mit zwanzig Jahren verliess auch Emma Meier ihre Institution, so wollte es das Reglement. Die Maturprüfung hatte sie damals noch nicht abgelegt. Um sich finanziell durchzuschlagen, arbeitete sie während des Selbststudiums. Menschen, die ihr den Rücken stärkten, hatte sie keine. Aber eben: Der Auftrag der Institution war erfüllt, «Fall Emma» ad acta gelegt. Diese Situation sei für austretende Heimkinder absurd, sagt Burri. «Man verbringt Jahre mit Sozialpädagog:innen. Aber auch herzliche Beziehungen werden nach dem Austritt abrupt gekappt, obwohl sie ja oft die einzigen konstanten Beziehungen der Kinder und Jugendlichen sind.» Betreuende würden speziell darin geschult, professionelle Grenzen zu wahren, was völlig unnatürlich sei: «Das führt dazu, einen Job verkopft auszuüben, in dem man mit Herz arbeiten müsste.» Für Burri, die eine CAS-Ausbildung in Kinder- und Erwachsenenschutz absolviert hat, war das mit ein Grund, sich auch in der Ausbildung angehender Berufsleute Gehör zu verschaffen. «Dabei musste ich mir viel Kritik anhören. Aber ich bleibe dabei: Es braucht diese Erfahrungswerte von ehemaligen Heimkindern unbedingt!»

Burri versteht, dass es für Betreuende nicht immer möglich ist, Beziehungen aufrechtzuerhalten. Immerhin: Hier und da beobachte sie ein Umdenken. Sei es, dass Sozialpädagoginnen Abendessen für Careleaver:innen veranstalten oder Institutionen Nachbetreuungsangebote schaffen. Aus ihrer Erfahrung als Sozialbegleiterin weiss sie: «Manchmal ist der Wunsch von Careleaver:innen nach Kontakt so gross, dass man sich tatsächlich abgrenzen muss. Dann ist es aber wichtig, die Situation zu klären und das Gegenüber nicht einfach stehen zu lassen.»

Eine weitere grosse Hürde für viele Careleaver:innen ist das knappe Geld. Emma Meier studiert inzwischen Medizin und schlägt sich mit 2000 Franken monatlich durch. Damit bestreitet sie sämtliche Ausgaben. Das Geld erhält sie von ihren Eltern. Laut Zivilgesetzbuch sind diese dazu verpflichtet, für ihre Kinder bis zum Abschluss der Erstausbildung aufzukommen. Im Fall von Meier ist das jedoch eine Gratwanderung: «Es ist ein immenser psychischer Stress, nicht zu wissen, ob das Geld von meinem Vater am Monatsende auf meinem Konto landet oder nicht», sagt sie. «Ist er manisch, möchte er mir die ganze Welt schenken. Kippt er auf die andere Seite, bin ich die allerschlimmste Tochter der Welt, weil ich ihn angeblich ruiniere.» Und wenn die Zahlung nicht eingeht? «Dann muss ich das aushalten, bekomme Mahnungen. Ich müsste meine Eltern dann anzeigen, bin aber gleichzeitig finanziell total von ihnen abhängig.»

Stipendien erhält sie nicht, weil ihr Stiefvater eine Immobilie besitzt. Und Sozialhilfe? «Die Auflagen, um überhaupt einen Antrag stellen zu können, sind sehr hoch.» Und falls dieser angenommen würde, hätte sich bis zum Abschluss ihres Studiums einen Schuldenberg angehäuft. «Das generiert psychischen Druck, dem junge Menschen wie Emma ausgeliefert sind. Und das, ohne überhaupt richtig im Berufsleben zu stehen», fasst Burri zusammen.

Und die Politik?

Grund genug für die Arbeitsgruppe Politik von Careleaver Schweiz, auf Bundesebene zu lobbyieren. Mehrere Vorstösse wurden bereits durch SP-Nationalrätin Sarah Wyss, der Präsidentin der parlamentarischen Gruppe Careleaving, eingereicht (vgl. «Vorstösse in Bundesbern»), wobei der Rat die Forderung, dass Careleaver:innen Sozialhilfegelder nicht zurückerstatten müssen, mit 92 zu 87 Stimmen abgelehnt hat. Aufgeben ist für Burri jedoch keine Option: «Es braucht gesetzliche Anpassungen, damit auch Menschen mit belasteten Biografien die Möglichkeiten haben, in dieser Gesellschaft Fuss zu fassen.»

Rose Burri hat das geschafft. Heute begleitet sie Institutionen dabei, Unterstützungsangebote für Careleaver:innen aufzubauen, Anknüpfungspunkte für austretende Jugendliche zu schaffen. Auch in der Szene des Kinder- und Jugendschutzes ist sie mittlerweile bekannt. Emma Meier, fast zehn Jahre jünger, steht an einem anderen Punkt. Finanziell unabhängig wird sie frühestens nach dem Studienabschluss. Bis dahin löst sie sich in Therapien von alten Mustern, arbeitet am Kontakt zur Mutter, mit der sie nach dem Heimaufenthalt und vielen Gesprächen inzwischen ein schönes Verhältnis hat.

Auch sie möchte sich dereinst für andere einsetzen, zum Beispiel in ihrem angestrebten Beruf als Ärztin. Zusammen mit Rose Burri tritt sie aus dem Bürogebäude. Ein gemeinsames Mittagessen steht an, um sich besser kennenzulernen.

* Name geändert.