Migration: Zweimal am Tag über den Zaun
England ist für viele Flüchtlinge ein begehrtes Ziel. Im französischen Calais aber stören die Gestrandeten, die über den Kanal setzen wollen, das Marketingkonzept der Stadt – die möchte von den Olympischen Spielen in London profitieren.
Den Hafenzaun überwinden. Ungesehen zu einem Lastwagen rennen. Auf die Mittelachse des Anhängers hechten. Die Flüchtlinge, die als Teil eines Lkw-Fahrgestells von Calais nach England reisen wollen, müssen sportlich sein.
Calais sieht die Präsenz der 150 Migranten in der Stadt als Problem. Am 27. Juli beginnen die Olympischen Sommerspiele in London, und viele BesucherInnen der Grossveranstaltung werden von Calais nach Dover übersetzen – da gilt es, Flecken vom Sonntagsanzug zu tilgen.
Der gesamte Bezirk Nord-Pas-de-Calais wolle von der Veranstaltung profitieren, erklärt die Direktorin des örtlichen Tourismusbüros, Solange Leclercq, gegenüber der WOZ. Die Zahl der gebuchten Übernachtungen liege derzeit zwar unter den Erwartungen, wichtig sei aber ohnehin eine langfristige Stärkung der Infrastruktur. Und ja, es stimme: Auch die Migranten stünden auf der Agenda.
Die Durchreisenden sollen Nord-Pas-de-Calais in guter Erinnerung behalten. Man hofft auf sich ansiedelnde Unternehmen, denn ein Vorteil der Gegend seien die vielen brachliegenden Flächen, sagt Leclercq.
So stellt die Region inmitten eines offensichtlichen Verfalls einigen olympischen Teams professionelle Trainingsstätten zur Verfügung, darunter Mannschaften aus dem Senegal, Burkina Faso und dem Tschad – Länder, aus denen ein Teil der an der Kanalküste gestrandeten Flüchtlinge stammt.
Auffanglager geräumt
Calais erhielt seine Schlüsselrolle in der Transitmigration vor zehn Jahren, als Flüchtlinge aus dem Kosovo an den Kanal strömten. Das Rote Kreuz richtete in Sangatte ein Auffanglager ein, das drei Jahre später von der Polizei aufgelöst wurde. 2009 folgte die Zerstörung des Migrantenlagers «Jungle» in Calais. Seither verstecken sich die Flüchtlinge in kleineren Gruppen in Abrisshäusern, Wäldchen und zwischen den Dünen.
Für das Uno-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) war dies der Anlass, ein Büro in Calais einzurichten, das jetzt aber geschlossen wird. Es sei nie ein langer Aufenthalt geplant gewesen, berichtet die scheidende Büroleiterin Sarah Ahmed, die derzeitige Situation erfordere keine dauerhafte Präsenz am Kanal.
Seit Juni 2011 seien fünf grössere Flüchtlingsunterkünfte zerstört worden, schreiben AktivistInnen des «No Border»-Netzes. Zuletzt fiel im Mai 2012 der sogenannte Palestine Squat, von dessen Existenz nur noch eine von einem Gerüst gestützte Altbaufassade zeugt.
Vermehrt stellen die Migranten – frustriert von den Fallstricken des Dublin-II-Abkommens – Asylanträge in Frankreich. Die Bearbeitung aber kann zwei Jahre dauern, und die Perspektive ist schlecht: «Es fehlen Förderprogramme, die ihnen einen Zugang zur Sprache und zur Arbeitswelt erleichtern», kritisiert Céline Dallery von der medizinischen Notfallhilfe für Flüchtlinge. Infolgedessen bekämpften einige ihre Depressionen mit Alkohol und Drogen. Das habe es bis vor kurzem nicht gegeben.
«Für heute ist es genug!»
Die anderen versuchen sich weiterhin als blinde Passagiere. Aber der Wachdienst im Hafen ist schnell. Meistens werden die Eindringlinge gestellt, noch bevor sie die Lkws erreichen. Für bereits registrierte Personen, die nicht abgeschoben werden dürfen, hat dies keine weiteren Konsequenzen: Sie werden nur zurück auf die andere Zaunseite begleitet. Der 24-jährige Rahim (Name geändert) aus Kundus erklimmt den Zaun mehrmals in der Woche. Manchmal auch zwei- oder dreimal am Tag. Dann reagierten die Beamten etwas ungehalten: «Für heute ist es genug!» Immer wieder glückt Flüchtlingen die Kanalüberquerung. Auch Freunde von Rahim sind in England, mit ihnen halte er über Mobiltelefon Kontakt.
Dabei sind die Grenzkontrollen auf britischer Seite jüngst verschärft worden. Und die britische Seite beginnt im Hafen von Calais. Dass es sogar Flüchtlingslager auf einsehbaren Wiesen in Hafennähe gibt, gefällt den französischen Behörden nicht. Die Bereitschaftspolizei CRS jedenfalls wecke sie jeden Morgen, erzählen die Flüchtlinge, zudem beschlagnahme sie manchmal Decken und Zelte. Die HelferInnen vor Ort haben Schwierigkeiten, mit dem Deckennachschub nachzukommen.
Die Verantwortlichen fahren keinen berechenbaren Kurs. So darf man gespannt sein, ob pünktlich zum Beginn der Spiele nach den grossen auch die kleinen Lager zerstört werden. Aber das Vorzimmer der Olympischen Spiele bleibt vor allem das Vorzimmer Englands. Hunderte Flüchtlinge werden sich wohl gerade auf dem Weg dorthin befinden, um dann ihr Bestes zu geben. Am Zaun, der sie vom Hafen trennt.