Migrantinnen in Calais: Sie riskieren Kopf und Kragen am Kanal
Selten sassen im französischen Calais so viele Flüchtlinge fest, die nach Britannien wollen – und selten war ihre Lage so verzweifelt.
Regungslos liegen zwei Gestalten auf einer Decke auf dem Grünstreifen hinter der Bushaltestelle. Sie sind jung, vielleicht gerade volljährig. Einer trägt eine Mütze, der andere eine Kapuze. In Calais gehören Obdachlose zum Alltag. In der Hafenstadt ganz im Norden Frankreichs leben derzeit rund 1500 MigrantInnen ohne feste Unterkunft – Sudanesinnen und Afghanen, Eritreerinnen, Ägypter und jetzt auch viele aus Syrien. Sie schlafen in den Parks, den Hauseingängen, draussen in den Dünenwäldern. Sie alle wollen möglichst schnell von hier aus über den Ärmelkanal nach Britannien gelangen.
Zwischenzeitlich sah man sie kaum mehr im Strassenbild. Doch jetzt sind es so viele wie selten zuvor. Sie suchen einen Weg zu Jobs, Sicherheit, dem guten Leben, das der Mythos Britannien noch immer verheisst (vgl. «Auf der Suche nach Arbeit»).
Ausläufer Italiens
«Natürlich liegt das an den vielen Ankünften in Italien», sagt Philippe Wannesson, ein kräftiger Mann mit rotblondem Strubbelkopf und Vollbart, der gegenüber der Bushaltestelle im Bahnhofscafé sitzt. Vor fünf Jahren kam er aus der Bretagne nach Calais, um TransitmigrantInnen zu unterstützen. «In Italien werden Migranten inzwischen nicht mehr festgehalten, sie können also schnell hierhergelangen. Aber es ist sehr schwierig für sie, über den Kanal zu kommen, denn immer mehr Polizisten bewachen den Hafen.»
In diesem Herbst schlägt das Thema wieder einmal an beiden Küsten hohe Wellen. Die Bürgermeisterin von Calais, Natacha Bouchart, erwägt eine offizielle Anlaufstelle für TransitmigrantInnen, was drüben in England Proteste auslöst. Und dann, Anfang September, passierte es: Eine grosse Gruppe MigrantInnen überrannte einfach die Kontrollen, achtzig von ihnen liefen zur Fähre nach England. Die Klappen wurden hochgezogen, doch ein paar schafften es auf das Schiff. «Logisch, dass sie irgendwann ausnutzen, dass sie so viele sind», sagt Wannesson trocken. Niemals zuvor waren die MigrantInnen von Calais in die Offensive gegangen. Seither weht ein Hauch von Melilla – der spanischen Enklave in Marokko – über den Hafen. Dort versuchen MigrantInnen immer wieder, mit gemeinsamen Aktionen die Grenze zu überwinden (siehe WOZ Nr. 13/14 ).
Rechtsextreme auf der Jagd
Die ständigen Polizeistreifen in den Strassen von Calais zeigen, dass die Nerven blank liegen. Und der weitere Verlauf dieses Tages ist nicht dazu angetan, sie zu beruhigen. Dort, wo am Mittag die beiden jungen Migranten schliefen, bildet sich am frühen Abend eine Menschenmenge. Von der Brücke über einen Kanal geht der Blick hinunter ans Ufer. Polizeitaucher in dunkelblauen Uniformen halten zwei weisse Laken in die Höhe. Dazwischen erkennt man einen knienden Beamten, dessen pumpende Armbewegungen jemanden ins Leben zurückholen sollen. Alle Wiederbelebungsversuche nützen nichts. Aus dem nahe gelegenen Gelände, wo der Mann wohnte, kommen immer mehr Menschen schnellen Schritts zur Brücke.
«Es ist schon der dritte Tote in den letzten Monaten», sagt Muhammad Ahmad am nächsten Tag. «Der erste fiel von der Achse unter einem Lkw, wo er sich versteckte. Der zweite, ein Eritreer, ertrank beim Versuch, in den abgesperrten Hafen zu schwimmen.» Ahmad, ein Kleidungshändler aus Darfur im Sudan, ist Mitte zwanzig, genau wie Musab, der Mann, der unter noch ungeklärten Umständen im Kanal starb. Und auch er wohnt mit 300 anderen im grossen Hof, der hier Squat genannt wird, aber ausser Graffiti an den riesigen Mauern nichts mit einem besetzten Haus gemeinsam hat. Zelte und kleine Bretterbuden stehen auf dem Steinboden, hier und da wird über offenen Feuerstellen gekocht.
«Police not welcome» steht auf einem Schild am Tor. Mit Stacheldraht haben AktivistInnen des Noborder Network den Eingang gesichert. Im Sommer wurden zwei Squats geräumt. Doch die PolizistInnen sind nicht die einzigen ungebetenen BesucherInnen. Auch die rechtsradikale Gruppe Sauvons Calais mobilisiert gegen MigrantInnen. Im September griffen sie ein kleineres Squat mit Molotowcocktails an; verletzt wurde niemand. Manchmal kommen sie nachts und jagen mit ihren Autos die Flüchtlinge. Auch AktivistInnen wurden schon angegriffen.
Gestern Nacht blieb Muhammad Ahmad zu Hause, im Zwanzigquadratmeterzelt, das er sich mit zwölf anderen SudanesInnen teilt. Am Abend hörte er die schlimme Nachricht vom Kanal. «Danach war ich deprimiert und traurig, und mir war nicht danach zu versuchen, mich in einen Frachtcontainer zu schleichen.» Vermutlich hätte er es ohnehin nicht geschafft. Früher gab es hier Migranten, die auf diese Weise innerhalb weniger Nächte einen Weg nach England fanden. Doch wie viele in diesem Herbst ist auch Ahmad schon mehrere Monate in Calais. Im Hof drückt er im Vorübergehen jemandem die Hand. «Ein Verwandter von Musab.» Die Stimmung ist gedämpft.
«Come together»
Um sich aufzuheitern, geht Muhammad Ahmad am Nachmittag mit seinem Freund Hassib Adam in die Innenstadt. Die beiden kennen sich aus Darfur; in Calais trafen sie sich wieder. Sie steuern den Park im Zentrum an und setzen sich auf die Stufen eines Weltkriegsdenkmals aus hellem Stein. «Aux Calaisiens morts pour la France» heisst es auf einer Mauer hinter ihnen. Auf der Strasse steht ein Festzelt, und die heutigen Calaisiens drängen sich vor der Bühne, auf der eine Band alte Rocksongs spielt. Noch mehr als fünf Stunden wird es dauern, bis die Hilfsorganisation Salam Essen verteilt. «Eine Mahlzeit am Tag», sagt Hassib Adam mit leiser Stimme. «Wie ist das noch gleich mit den Menschenrechten?» – «Come together, right now», tönt es von der Bühne.
Vor den französischen Fahnen hinter dem Denkmal hat sich eine Gruppe junger Männer niedergelassen. Sie trinken Bier aus Flaschen, die sie an der Kante des Monuments öffnen. Niemand nimmt Notiz von den Randgestalten, von denen sich nun immer mehr auf die Stufen setzen und das Fest aus der Entfernung beobachten. «Werden wir irgendwann einmal dort stehen, mit den anderen?», fragt Adam schüchtern, und weist auf die Bühne, wo die Band nun «Jumpin’ Jack Flash» anstimmt. Ein einziger der Migranten wagt sich vor und schenkt einem Kind einen gelben Luftballon. Zögerlich nimmt das Kind ihn an. Am Abend wird im schäbigen Hafenviertel von Calais mit seinen rostroten Bordsteinen über den Krieg diskutiert. Vor einem türkischen Imbiss steht eine Gruppe Syrer und wartet auf die Inhaberin, die sie Zouzou nennen. Zouzou ist die Einzige hier, die ihnen erlaubt, ihre Mobiltelefone aufzuladen. Aber der Imbiss ist noch geschlossen, und so diskutieren die Syrer darüber, ob sich der Westen mit der syrischen Regierung gegen den Islamischen Staat zusammentun sollte.
Niemand hier hegt Sympathien für die IslamistInnen; einer ist ihnen in Rakka gerade noch entkommen. Aber das Regime von Baschar al-Assad, da sind sie sich einig, komme nicht als Partner infrage. Einer, ein Tierarzt, erzählt, dass er einst bei der Freien Syrischen Armee (FSA) gekämpft habe. Einmal, sagt er, habe er ein Auto hochgehen lassen, in dem vier von Assads Offizieren sassen. «Die Hälfte von uns war bei der FSA, und die andere Hälfte unterstützte sie.» Der Mann aus Rakka dreht sich eine Zigarette. Ein Quartierbewohner geht mit seinem Hund vorbei und verschwindet, ohne aufzublicken, rasch in seinem Hauseingang.
Polizeiknüppel und Taser
Wer es unversehrt aus Syrien nach Europa geschafft hat, riskiert nun am Kanal Kopf und Kragen. Um nahe beim Hafen und bei der Essensausgabe zu sein, schläft die Gruppe in einem Park in der Nähe oder auf der Strasse. Dem jungen Nasr schmerzt von jenen kalten, feuchten Nächten nun das Bein. Keiner von ihnen, der noch nicht Bekanntschaft mit Polizeiknüppeln oder Tasern gemacht hat. Abderrahman, mit 42 Jahren der Senior der Gruppe, kann über keinen Zaun mehr klettern, seit ihn in der Nacht zuvor Polizisten von einem heruntergezogen haben. Das Knie, auf das er stürzte, ist dick und tut bei jeder Berührung so weh, dass sich sein Gesicht verzerrt.
Dann zeigt jemand ein Handyfoto. Darauf ist eine rechte Hand zu sehen, an der der Ringfinger fehlt. Auch er blieb am Zaun hängen. Das Foto entstand im Krankenhaus. Der Junge, dem jetzt ein Finger fehlt, stösst wenig später dazu. Er trägt einen dicken Verband, Mantel und Jogginghose und lässt sich nichts anmerken. Nur dass er den anderen zur Begrüssung das Handgelenk hinstreckt. Natürlich wird er es wieder probieren, so wie alle hier.
Einer der Syrer hat es sich in den Kopf gesetzt, vom alten Luftkissenbootsterminal aus ins Hafenbecken zu schwimmen, vorbei an den Kontrollen, und zwar im letzten Moment, bevor die Fährklappen hochgehen. «Das Problem ist: Er kann nicht schwimmen», sagt der Tierarzt. «Wir haben ihm gesagt, er soll das nicht tun, doch er ist nicht davon abzubringen.» Der Nichtschwimmer grinst entschuldigend, betont aber, dass es nur hundert Meter seien und er sich ausserdem mit einem Reifen über Wasser halten wolle. Seine rechte Hand spielt derweil mit einer Gebetskette. Denkt er vielleicht an die Polizisten, die jetzt mit Hunden dort postiert sind, seit die Idee Schule gemacht hat?
Sprungbrett Calais : Auf der Suche nach Arbeit
Seit mehr als zehn Jahren ist die nordfranzösische Hafenstadt Calais, die in 34 Kilometern Entfernung vom englischen Dover liegt, das Sprungbrett, um heimlich nach Britannien zu gelangen. 2002 wurde auf Druck Londons das Auffanglager des Roten Kreuzes im nahen Sangatte geschlossen. Seither hat sich das Geschehen in Elendscamps und auf besetzte Gelände verlagert, die regelmässig geräumt werden. Am meisten Aufsehen erregte 2009 die Zerstörung der Jungle genannten Ansammlung notdürftiger Hütten und Zelte, in denen mehr als 500 Menschen lebten.
Frankreich und England versuchen mit immer mehr technischem und personellem Aufwand, die MigrantInnen zu vertreiben und sie an der illegalen Überfahrt zu hindern. Auch die britischen Immigrationsbehörden sind in Calais an Kontrollen beteiligt. Zwar sank die Zahl der MigrantInnen vorübergehend auf rund 200, dafür dehnte sich das Phänomen auf die übrigen Häfen der Kanalküste aus. Seit dem sprunghaften Anstieg der Flüchtlingszahlen in Italien vor einem Jahr halten sich wieder zunehmend TransitmigrantInnen in Calais auf. Im September waren es mit rund 1500 mehr denn je. Die britische Regierung kündigte zuletzt an, mit grossen Geldbeträgen die «Hafensicherheit» zu verbessern.
In Britannien versprechen sich die TransitmigrantInnen schnellen Zugang zum – meist inoffiziellen – Arbeitsmarkt. Dank der fehlenden Ausweispflicht gibt es dort weniger Kontrollen, zudem sprechen viele der MigrantInnen zumindest ein wenig Englisch. Auch haben einige von ihnen Verwandte oder Bekannte auf der Insel. Um die Chance auf einen Aufenthaltsstatus dort nicht zu gefährden, sucht so gut wie niemand in Frankreich um Asyl nach. Damit haben sie aber auch keinen Zugang zu offiziellen Unterkünften oder Verpflegung.
Humanitäre Organisationen unterhalten mit Freiwilligen eine Essensausgabe, verteilen Kleider und manchmal Decken und Zelte. Seit 2009 sind in Calais auch politische AktivistInnen des Noborder Network permanent vertreten. Auch sie helfen mit Decken oder Schlafsäcken, suchen nach Räumlichkeiten und dokumentieren Polizeigewalt.