Medientagebuch: Die Wahrheit erfinden
Lotta Suter über die US-amerikanische TV-Serie «The Newsroom»
Bei meinem USA-Besuch diesen Sommer sprachen alle, besonders die, die sich sonst kaum fürs Fernsehen interessieren, begeistert über eine neue Serie des Kabelsenders HBO. «The Newsroom» heisst sie, und das klingt, verglichen mit «Sex and the City» oder «Desperate Housewives», etwas dürr. Bietet eine Nachrichtenredaktion denn so viel Unterhaltungswert?
«Auf jeden Fall», sagten meine InformantInnen. Und sie meinten damit nicht die erwartbaren Liebeleien zwischen den Hauptfiguren. Nein, meine FreundInnen sprachen mit leuchtenden Augen über Dinge wie Wahrheit und Faktentreue, Unbestechlichkeit und Zivilcourage. Die JournalistInnen von «Newsroom» seien wirklich gut. Endlich sehe man ReporterInnen, die einer Sache auf den Grund gehen und sich von den Politikern nicht mit billigen Phrasen abspeisen lassen. Einen Moderator, der die offensichtlichen Lügen von Fox News und andern ideologisch verblendeten Massenmedien beim Namen nennt. Der den selbstverliebten Mythos von Amerika als grossartigster aller Nationen auf den Misthaufen der Geschichte wirft.
Meine tendenziell linksliberalen FreundInnen schwelgten in vergangenen «Newsroom»-Episoden (Ausschnitte sind in Englisch auf YouTube zu sehen; eine deutsche Fassung kann ab Herbst als DVD bestellt werden). Und sie diskutierten nach der Show angeregt über reale politische Ereignisse der jüngsten Vergangenheit wie das Attentat auf Arizonas Kongressabgeordnete Gabrielle Giffords, die Ölkatastrophe am Golf von Mexiko, Präsident Obamas Indienreise, den Tod von Usama Bin Laden, den linken Protest im US-Bundesstaat Wisconsin und die politische Einflussnahme der milliardenschweren Koch Brothers, die den rechten Flügel der Republikaner finanzieren. Anscheinend haben meine Bekannten und Verwandten dabei einen Moment lang vergessen oder verdrängt, dass es in diesem speziellen Newsroom lediglich um erfundene Wahrheit und Faktentreue geht. Dass die Unbestechlichkeit und die Zivilcourage der Medienschaffenden fiktional sind. Leider.
Doch nicht bloss Millionen von US-MedienkonsumentInnen loben «The Newsroom», dessen zweite Staffel bereits beschlossene Sache ist. Auch der bekannte Journalist und TV-Moderator Dan Rather findet die Serie «grandios» und «realitätsnah». In einem CNN-Interview erklärte er, weshalb ihm die Show so am Herzen liege: «‹The Newsroom› nimmt den Kampf um die Seele des Nachrichtenjournalismus auf.» Gezeigt wird dem Publikum tatsächlich, wenn auch in melodramatischer Verdichtung, dass die viel beschworene Fairness und Ausgewogenheit der heutigen US-Medien nichts mit Wahrheit, Logik oder Wirklichkeitsnähe zu tun haben, sondern mit Einschaltquoten, Profitraten und politischer Gefälligkeit. Manchmal liege die Wahrheit halt nicht in der Mitte, sagt Aaron Sorkin, der Schöpfer von «The Newsroom», in Interviews. Er fügt jeweils hinzu, wenn die Republikaner behaupteten, die Erde sei flach, dann schreibe die «New York Times» am nächsten Tag bestimmt, die Demokraten und Republikaner könnten sich nicht über die Form der Erde einigen.
Drehbuchautor Sorkin, der mit der TV-Serie «West Wing» bereits vorgeführt hat, wie ein idealer US-Präsident aussehen könnte, will nun mit «The Newsroom» eine bessere US-Medienkultur vordenken und vorspielen – so ernsthaft, ehrgeizig, belehrend, naiv moralistisch und einseitig wie nötig. Vorläufig übertrifft seine Fantasie die Realität.
Lotta Suter ist WOZ-Autorin.