Sozialstaat Schweiz: Das Fundament der Freiheit

Nr. 34 –

Marianne Dreher heiratete einen Mann, der seine pädophilen Neigungen im Internet auslebte und deswegen eine bedingte Gefängnisstrafe kassierte. Darüber zerbrach die Ehe, und auch Marianne Drehers Leben geriet aus den Fugen. Sie verlor ihre Stelle, bezog Arbeitslosengeld, wurde ausgesteuert, landete in der Psychiatrie und schliesslich arbeitsunfähig auf der Sozialhilfe. Am Ende war ihr Leben deswegen nicht. Sie kann es trotz Beeinträchtigungen in Würde weiterführen, wie eine der Sozialreportagen des WOZ-Autors Fredi Lerch in seinem eben erschienenen Buch zeigt (vgl. «Jetzt beginnt das Herzrasen und ein Zittern» ). Dank eines funktionierenden sozialen Netzes. Dieses ist beileibe nicht perfekt. Aber es fängt fast alle auf. Noch. 

Die insgesamt gut und solidarisch finanzierten und leidlich funktionierenden Sozialversicherungen, die Krankenversicherung und ein breites Beratungsangebot bewahren den Grossteil der Bevölkerung der Schweiz vor den Fährnissen des Lebens, vor den Folgen von Arbeitslosigkeit, Invalidität, Unfällen und Altersarmut. Es sind Versicherungen, keine Almosen. Staatliche Instrumente wie die Kurzarbeit leisten im Übrigen Unternehmen in Krisenzeiten Überbrückungshilfe, und das nicht zu knapp.

Mittlerweile ist es eine Binsenweisheit: Staaten mit gut ausgebauten und clever finanzierten Sozialleistungen und wenig Ungleichheit kommen besser durch wirtschaftliche Krisen und bewahren sie vor sozialen Unruhen. Zu diesen Staaten zählt die Schweiz. Das ist einer der bedeutendsten Standortvorteile. 

Es ist wahr: Die Ausgaben der Sozialleistungen haben sich zwischen 1990 und 2007 vervielfacht – in der Sozialhilfe etwa wuchsen sie um das Vierfache, das Budget der ALV stieg um das Achtfache und jenes der IV um das Dreifache. Nicht, weil die Menschen bequemer wurden – es sind die Folgen gesellschaftlicher Veränderungen und einer globalen Wirtschaft.

Ist die Schweiz an diesen sinnvollen Investitionen (eben nicht bloss Kosten) zugrunde gegangen? Das Land steht im internationalen Vergleich mit einer Schuldenquote von vierzig Prozent blendend da, es lagen in diesen Jahren Steuersenkungen und Steuerlügen zugunsten der Reichen drin, die UBS konnte mit einer staatlichen Bürgschaft von sechzig Milliarden Franken gerettet werden. Die Schweiz steht nicht am Abgrund, sie kann sich einen gut ausgebauten Sozialstaat leisten. Die Mittel sind vorhanden.

Obschon es keinen Anlass für apokalyptische Untergangsszenarien gibt, malen Neoliberale nach wie vor den Teufel an die Wand, sobald es um den Sozialstaat, die Finanzierung von Bildung oder um Mindestlöhne geht. Statt nüchterner Analysen predigen sie ihre Marktreligion und ihre Freiheit, die Freiheit für wenige, die Freiheit der Besitzenden. Ihre Freiheit ist auf die sogenannte Wirtschaftsfreiheit geschrumpft. Zum Nachteil aller anderen. Diese denunzieren sie als «unflexibel», als «Besitzstandswahrer», als «Sozialschmarotzer», als «Freiheitsfeinde», als «Gleichmacher», während sie ihren Besitzstand erhöhen. 

Ihre Behauptungen halten einem Realitätscheck nicht stand. Nicht SozialhilfebezügerInnen, AsylbewerberInnen oder Arbeitslose gefährden den sozialen Zusammenhalt und ruinieren den Ruf der Schweiz.

Zugegeben, die Wirtschaftsbosse und ihre HelfershelferInnen in der Politik sind leiser geworden, aber den Ton geben sie noch immer an. Sie attackieren die Schweizer Sozialwerke weiter – nachdem sie bei ALV und IV erfolgreich waren, ist jetzt abermals die AHV an der Reihe (Rentenalter 65 für Frauen), die Unfallversicherung und die Senkung des Umwandlungssatzes bei den Pensionskassen. 

Der österreichische politische Essayist Robert Misik hat den Freiheitsbegriff der Liberalkonservativen eben in einem schmalen Band («Halbe Freiheit») als widersprüchlich entlarvt. Dort findet sich ein Abschnitt, der klarmacht, weshalb der Sozialstaat das Fundament für die Freiheit aller ist: «Freiheit heisst, nicht kommandiert zu werden. Freiheit heisst, seine Stimme erheben zu können und gehört zu werden. Freiheit des Einzelnen heisst, dass jeder Einzelne gleich viel wert ist. Freiheit heisst aber auch, nicht nur die theoretische Freiheit zu haben, sich auszuprobieren, sondern auch über die Ressourcen zu verfügen, die das praktisch ermöglichen.»