Das Toy Piano: Mysteriöse Klangschachteln
Vom Kinderspielzeug zum Konzertinstrument: Das kleine Toy Piano erfreut sich grosser Beliebtheit bei MusikerInnen wie auch beim Publikum. Zu verdanken ist dies auch dem Komponisten John Cage, der am 5. September seinen 100. Geburtstag feiern würde.
Musikinstrumente erfahren bisweilen sonderbare Verwandlungen. Die Mundharmonika wurde einst als Spielzeug in Wien erfunden, um sich später im Süden der USA zum Bluesinstrument der Schwarzen zu mausern. Aus ihr entstand in den 1950er Jahren die Melodica, die von der Firma Hohner in Trossingen als Schulmusikinstrument entwickelt worden war. Der jamaikanische Produzent und Musiker Augustus Pablo machte das Blasinstrument mit Klaviertastatur zu einem Bestandteil des Dub-Reggae, was andere MusikerInnen inspirierte, es auch in Rock und Pop einzusetzen.
Ähnlich erging es dem Toy Piano. Das winzige Tasteninstrument, das auf Deutsch «Kinderklavier» genannt wird, war ursprünglich ebenfalls fürs Spielzimmer gedacht, es sollte den Nachwuchs ans Musikmachen heranführen. Heute wird es immer mehr in Jazz, Pop und avantgardistischer E-Musik benutzt. Dabei wird eine vergessene Klangwelt wiederentdeckt und auf zeitgemässe Weise neu aufbereitet. So folgt auf eine bewegte Karriere, die vor 140 Jahren begann, das Happy End.
Das Toy Piano gibt es in verschiedenen Varianten. Entweder sieht es wie ein Klavier oder ein Konzertflügel aus – nur etliche Nummern kleiner! Doch obwohl es eine konventionelle Klaviertastatur besitzt, funktioniert die Tonerzeugung anders als beim normalen Piano: Mittels Tasten werden mit Holz- respektive Plastikhämmerchen Metallplättchen anstatt Stahlsaiten angeschlagen, was das Toy Piano zu einem Verwandten des Xylofons oder des Glockenspiels macht, dessen hellen metallenen Ton es auch besitzt. Bei primitiven Modellen sind Tonumfang und Tonskala stark eingeschränkt. Manche Instrumente besitzen nicht einmal zehn Noten. Halbtöne sind keine vorhanden und die schwarzen Tasten nur aufgemalt.
«Piano für Zwerge»
«Das Toy Piano verfügt über eine besondere Attraktivität, einen Charme, der den Leuten gefällt», beschreibt die New Yorker Pianistin Margaret Leng Tan seine Anziehungskraft. «Es besitzt eine Magie, die das Publikum in den Bann zieht.»
Diese Faszination hat mit einer Verfremdung zu tun. Wenn sich ein Erwachsener ans Toy Piano setzt, geraten die Grössenverhältnisse durcheinander. Dann fühlen sich die ZuhörerInnen in eine Märchenwelt versetzt, hinter die sieben Berge, zu den sieben Zwergen. Erinnerungen an die Kindheit werden wach – besonders in den USA, wo viele ihre ersten musikalischen Gehversuche am Toy Piano unternahmen. «Ein Piano für Zwerge», spöttelt der englische Komponist Joe Cutler, der dennoch einige Stücke für das Instrument schrieb.
Was einst im Kinderzimmer begann, hat mittlerweile den Konzertsaal erreicht. In vielen Sparten der Musik ist das Toy Piano präsent – mit steigender Tendenz. Und das Interesse wächst. Auch Popstars wie Björk, Tom Waits, Radiohead oder Sigur Ros setzen es ein, ebenso der Elektroniker Burnt Friedman oder die Groove-Jazzer Medeski, Martin & Wood.
Der Franzose Pascal Comelade hat das Instrument in sein Orchester aus lauter Spielzeuginstrumenten wie Plastikflöten und -tröten, Ukulele und Kinderschlagzeug integriert. «Wegen meiner pianistischen Begrenztheit ist das Toy Piano sehr praktisch für mich. An einem Spielzeugklavier habe ich das Gefühl, ein echter Pianist zu sein», bekennt Comelade. «Zudem ist das Instrument ein Protest gegen die Masslosigkeit des aktuellen Musikbetriebs, gegen das ‹Überspektakel›, diese brutale Art des Musikmachens. Das Toy Piano, dieses lächerliche Instrument, erhebt dagegen Einspruch.»
Sogar eine Toy-Piano-Band gibt es inzwischen, die unter dem Namen Twink von Mike Langley in Boston, Massachusetts ins Leben gerufen wurde und eine Popmusik macht, die elektronische Beats mit den vielfältigen Sounds verschiedener Toy Pianos verbindet. Überdies ist der US-Amerikaner Ranjit Bhatnagar mit einem Toy-Piano-Roboter namens Vexbot unterwegs, mit dem er Erik Saties Werk «Vexations» aufführt, von dem der französische Musikexzentriker verlangte, es 840 Mal hintereinander zu spielen. Der Roboter schafft das spielend in ungefähr zwanzig Stunden.
Ideal für John Cage
Der US-amerikanische Avantgardekomponist John Cage, der am 5. September seinen 100. Geburtstag feiern würde, war der Erste, der das Potenzial des Spielzeuginstruments erkannte. 1948 schrieb Cage mit der «Suite for Toy Piano» die erste ernsthafte Komposition für das Instrument. Im Februar 1960 folgte «Music for Amplified Toy Pianos», ein Stück, das Cage für eine beliebige Anzahl dieser Instrumente entwarf.
Für John Cage war die Verwendung des Spielzeuginstruments Teil seiner Rebellion gegen den klassischen Musikbetrieb, besonders gegen den Pomp und die Monumentalität eines Richard Wagner. Damals war bei Cage gerade das Interesse an Erik Satie sowie an fernöstlicher Philosophie erwacht und das Motto «Ruhe durch Beschränkung» zu seiner Lebensmaxime geworden. Der eingeschränkte Tonumfang des Toy Pianos entsprach genau dieser Haltung, wobei Cage für die «Suite for Toy Piano» nur eine Handvoll Noten vorsah.
«John Cage hatte bereits in der zweiten Hälfte der dreissiger Jahre angefangen, Stücke für Perkussionsinstrumente zu schreiben, bei denen Blumentöpfe und Blechdosen zum Einsatz kamen», erklärt die Pianistin Margaret Leng Tan, die mit Cage gearbeitet hat. «Er war daran interessiert, Alltagsgegenstände zu musikalisieren, mit Dingen Musik zu machen, die üblicherweise nicht dazu verwendet werden. In diese Kategorie fällt auch das Toy Piano.» Die Idee, die hinter der «Suite for Toy Piano» steckte, stammte von Marcel Duchamp und dessen Readymades. Es ging darum, gefundene Objekte in etwas Künstlerisches zu verwandeln.
1970 legte ein weiterer US-amerikanischer Komponist nach: George Crumb bezog das Toy Piano neben Oboe, Harfe, Mandoline und Perkussion in sein Ensemblestück «Ancient Voices of Children» ein. Crumb komponierte gerne für Instrumente, die in der klassischen Musik als verpönt galten, wie etwa das Banjo oder die Singende Säge. Bis heute hat er sich ein Faible für das Toy Piano bewahrt. «Vor einiger Zeit rief mich die Frau von George Crumb an und erzählte mir von einem Toy Piano für fünf Dollar, das sie in einem Trödelladen gesehen hatten», erzählt Margaret Leng Tan, die mit den Crumbs befreundet ist. «Ich bat sie, es für mich zu kaufen, und es stellte sich als vieroktaviges Schoenhut-Spinett heraus, ein sehr seltenes Instrument. Was für ein Glücksfall!»
Glockenhelle Töne
Cage und Crumb wirkten als Anreger. Andere KomponistInnen verarbeiteten die Impulse weiter. Mittlerweile ist ein umfangreiches Repertoire an Kompositionen für das Toy Piano entstanden, ja selbst ein Werk für Toy Piano mit Live-Elektronik in Surround-Sound. Der österreichische Komponist Karlheinz Essl hat es 2010 für die US-amerikanische Pianistin Phyllis Chen geschrieben, wobei er die Freiheit genoss, einmal für ein Instrument zu komponieren, das im Gegensatz zum Piano oder zur Violine nicht mit der Bürde eines über Jahrhunderte gewachsenen Repertoires belastet ist.
Im selben Jahr entstand die Komposition «Hymn to Ruin» von Ross Bolleter. Bolleter, der australische Spezialist für ausrangierte verrottete Klaviere, konzipierte das Stück für ein kaputtes Toy Piano und ein Klavierwrack und hat es mit Margaret Leng Tan selbst realisiert.
Wenn die österreichische Pianistin Isabel Ettenauer die Konzertbühne betritt, hat sie oft ein halbes Dutzend Toy Pianos und einen Laptop dabei, mit dem sie die Töne manipulieren, überlagern, verdichten, verfremden kann. Neuste digitale Elektronik geht bei ihr wunderbar mit den glockenhellen Tönen der Toy Pianos zusammen.
Wie Margaret Leng Tan und Phyllis Chen gehört Ettenauer zu einer Handvoll KonzertsolistInnen, die zur Aufwertung des einstigen Spielzeuginstruments beigetragen haben. Über dreissig Stücke für Toy Piano haben KomponistInnen für die österreichische Virtuosin geschrieben. Alle möglichen Kombinationen wurden erkundet. Ettenauer spielt das Kinderklavier zusammen mit einem Konzertflügel oder zwei Toy Pianos zugleich, jedes mit einer Hand.
Erste Anstösse zu einer Rehabilitierung des Instruments kamen Ende der 1970er Jahre aus Deutschland, wo der Komponist und Pianist Bernd Wiesemann mit gewagter Musik für das niedliche Instrument aufhorchen liess und dem Toy Piano erstmals die Tür zum Konzertsaal öffnete, wenn auch nur einen Spaltbreit. «Die Jetztzeitmusik einem ‹ungeübteren› Publikum nahezubringen», war Wiesemanns Intention. Dafür erwies sich das Toy Piano als idealer Klangerzeuger, weil es selbst radikalen Avantgardekompositionen das Schwerverdauliche nimmt und sie federleicht und verträumt wie Musik aus einer Spieldose klingen lässt.
Um die Klangfarben zu erweitern, sind Toy-PianistInnen fortwährend auf der Suche nach «neuen» Modellen, die sie anachronistischerweise in Trödelläden und auf Flohmärkten finden. Auch eBay ist eine gute Quelle für die antiquierten Klangerzeuger. In Margaret Leng Tans Wohnung in Brooklyn stapeln sich mehr als zwanzig Modelle – vom primitivsten bis zum anspruchsvollsten Instrument. «Jedes Toy Piano hat seinen eigenen Charakter und seinen eigenen Sound», erklärt sie: «Nicht einmal die beiden selben Schoenhut-Modelle klingen gleich.» Isabel Ettenauer besitzt über dreissig Instrumente. «Es ist eine Sucht», sagt die Österreicherin. «Wenn ich irgendwo auf ein Toy Piano stosse, muss ich es haben.»
Obwohl das Toy Piano in den USA seine grösste Verbreitung fand, liegt sein Ursprung in Deutschland, genauer gesagt in der Spielzeugstadt Göppingen in der Nähe von Stuttgart. Von hier wanderte 1866 der Holzdrechsler Albert Schoenhut in die USA aus, weil ihn die Not dazu zwang. Der damals Siebzehnjährige stammte aus einer Spielzeugmacherfamilie, die seit Generationen in Göppingen ansässig war.
In den USA fand Schoenhut bald Arbeit. Er verdiente anfangs seinen Lebensunterhalt, indem er für eine Importfirma Musikinstrumente reparierte, die auf der Überfahrt von Europa beschädigt worden waren. Manche dieser Tasteninstrumente benutzten Glasplatten zur Tonerzeugung, weshalb sie leicht kaputtgingen. Als Schoenhut auf die Idee kam, die zerbrechlichen Glasplatten durch robustere Metallplatten zu ersetzen, war das Toy Piano geboren.
1872 gründete er in Philadelphia seine eigene Firma, die neben Toy Pianos auch Glockenspiele sowie Spielzeug wie Stehaufmännchen und Tierfiguren herstellte. Eine der Attraktionen im Schoenhut-Sortiment war der «Humpty-Dumpty-Circus» mit beweglichen Elefanten, Akrobaten, Tigern und Kamelen sowie einem Miniaturschiessstand für Kinder mit Gummikugelgewehr – «Garantiert harmlos!», wurde im Prospekt versichert.
Bis zu dreieinhalb Oktaven
Schoenhuts Toy Pianos galten als Sensation und erlangten rasch eine so grosse Beliebtheit, dass andere Hersteller nachzogen und sie nachzumachen begannen. The Jaymar Speciality Company, ein Metall- und Holzspielzeugunternehmen in Brooklyn, das 1929 das Jo-Jo erfand, wurde zum Hauptkonkurrenten. Thos Giddings baute die «Eureka Toy Pianos», und auch die Spielzeugfabrik R. Bliss Manufacturing Company in Pawtucket, Rhode Island, erweiterte ihr Sortiment. «Kauft nur Waren mit dem Schoenhut-Label», wurde vor Imitationen gewarnt.
Das Geschäft boomte. Anfang des 20. Jahrhunderts beschäftigte die Schoenhut-Company 400 ArbeiterInnen und nannte sich den «grössten Spielwarenhersteller der Welt». Schoenhut legte grossen Wert auf die Qualität und Haltbarkeit seiner Produkte. Daneben war ihm die Erschwinglichkeit ein Anliegen. «Ein Klavier für jeden Geldbeutel!» lautete der Firmenslogan.
Mit Katalogen und Plakaten wurde der Absatz stimuliert. Hinter einem bunten Deckblatt, das glückliche Kinder am Toy Piano zeigt, enthielt der Schoenhut-Katalog ein Dutzend simple einstimmige Melodien, um den AnfängerInnen den Einstieg ins Musikmachen zu erleichtern sowie Eltern vom erzieherischen Wert des Instruments zu überzeugen. Die aufwendigsten Toy Pianos hatten einen Tonumfang von dreieinhalb Oktaven. Damit konnte man sich an klassische Werke heranwagen. Als «Rolls-Royce unter den Toy Pianos» bezeichnet Isabel Ettenauer ihr anspruchsvollstes Modell.
Schoenhuts Toy Pianos fanden reissenden Absatz und machten den Erfinder zum Millionär. Nach dem Tod des Firmengründers 1912 führten seine Söhne das Unternehmen weiter. In der Weltwirtschaftskrise in den dreissiger Jahren geriet die Firma in Turbulenzen und ging 1935 in Konkurs. Andere Toy-Piano-Hersteller überstanden die Krise und setzten die Produktion fort. Auch in Europa entstanden jetzt Firmen, die mit eigenen Modellen auf den Markt drängten: so etwa das Unternehmen Michelsonne aus Paris, das seine Modelle «Bell-Tone-Pianos» nannte.
Ein kleines Revival
In den USA hatte das Toy Piano ein Heimspiel. Es war so populär, dass es in Film und Fernsehen Einzug hielt. Seinen eindrücklichsten Auftritt hatte es in den sechziger Jahren in der Cartoonserie «Peanuts» mit Snoopy und Charlie Brown, in der das Musikgenie Schroeder fortwährend auf einem Toy Piano klimpert. Als ihn Lucy fragt, wie er die schwarzen Tasten spielt, die ja nur aufgemalt sind, antwortet Schroeder: «Willenskraft!»
Die anhaltende Beliebtheit des Toy Pianos animierte NachfahrInnen von Albert Schoenhut, die Firma wieder ins Leben zu rufen. Die heutige Schoenhut-Company in Florida ist ausschliesslich auf den Bau von Toy Pianos spezialisiert. Allerdings kommen die Umsatzzahlen längst nicht mehr an die Verkäufe von einst heran. Das Massenprodukt ist zu einem Liebhaberinstrument geworden. Billige elektronische Keyboards haben ihm den Rang abgelaufen und es zum Auslaufmodell degradiert – zum Relikt einer vergangenen Epoche.
Da kommt die Transformation zum Konzertinstrument gerade recht, die dem Toy Piano ein kleines Comeback beschert. Zum Revival des Kinderklaviers haben auch Filme beigetragen. Im französischen Kinohit «Amélie» von Jean-Pierre Jeunet aus dem Jahr 2001 sorgt die Musik von Yann Tiersen für die skurrile, leicht surreale Atmosphäre. Der Komponist greift dafür auf das Toy Piano zurück. Wenn es um geisterhafte Stimmungen geht, kommt man am Kinderklavier nicht vorbei.
John Cage
Am 5. September wäre John Cage hundert Jahre alt geworden. Geboren 1912 in Los Angeles, liebäugelt der Schulbeste anfangs mit einer literarischen Karriere, um dann 1930 erste Kompositionen zu schreiben. Er studiert bei Arnold Schönberg, gründet 1937 ein Schlagzeugorchester und zieht 1942 nach New York. Dort lernt er Max Ernst, Peggy Guggenheim und Marcel Duchamp kennen, ebenso seinen Lebensgefährten, den Tänzer Merce Cunningham.
Cage interessiert sich für indische Philosophie, Zen-Buddhismus und makrobiotische Ernährung. Er revolutioniert die Musik durch Stücke für «präpariertes Klavier» und etabliert den Zufall als Kompositionsverfahren. Er erhält zahlreiche Preise und Ehrendoktorwürden. Kurz vor seinem 80. Geburtstag stirbt er 1992 in New York.
1991 waren John Cage und James Joyce Thema der Zürcher Junifestwochen. In diesem Rahmen wurden auch Cages «Europeras 1 & 2» aufgeführt. Für die aktuell stattfindende Ruhrtriennale in Bochum hat Heiner Goebbels, der auch als künstlerischer Leiter amtet, das «Musiktheater aus 128 Opern in 32 Bildern» neu inszeniert.