Netzpolitik: Grüne PiratInnen
Die Grünen haben als erste etablierte Partei ein Grundsatzpapier zu netzpolitischen Fragen verfasst. Viele Positionen ähneln denen der Piratenpartei. Diese begrüsst die Entwicklung. Damit werde endlich eine breitere Debatte zur Netzpolitik möglich.
Am Abend nach der Delegiertenversammlung Ende August wollte es Balthasar Glättli doch noch genau wissen. Der grüne Nationalrat suchte im digitalen Internetarchiv «Wayback Machine» und fand auf einer alten Version der Parteiwebsite vom März 2002 ein Dokument mit dem Titel: «Grüne Position zur Informationsgesellschaft». Darin hatten die Grünen Stellung zu einigen grundlegenden Fragen zum Internet und anderen neuen Technologien bezogen. Die Kernpunkte: Zugang zu Informationen für alle, Datenschutz, Medienkompetenz und Ökologie.
Danach muss das Papier irgendwo verloren gegangen sein. Denn am Nachmittag, bevor Glättli auf das Dokument stiess, hatten die Delegierten seiner Partei in Aarau ein von ihm mit verfasstes Positionspapier für eine «Grüne Netzpolitik» verabschiedet. Die Kernpunkte: Zugang zum Internet, Netzneutralität, Datenschutz, Urheberrechte, Medienkompetenz, Open Data, grünes Internet.
Diesmal soll das Thema nicht wieder in einer Schublade verschwinden. Dafür will Glättli, der Hauptautor des Grundsatzpapiers, sorgen. Das abgesegnete Positionspapier legt einen Grundstein, in einer neuen Arbeitsgruppe sollen nun die verschiedenen Themenfelder ausgebaut und vertieft werden. «Das war der einfache Teil», sagt Glättli, «jetzt sollen bei der Basis Diskussionen dazu stattfinden und das Thema in der Partei verankert werden.»
Im digitalen Tiefschlaf
Es ist erstaunlich: Zwanzig Jahre nach der Erfindung des World Wide Web können sich die Grünen in einer Medienmitteilung rühmen, die «erste Schweizer Partei» zu sein, «welche Positionen zum Thema Netzpolitik festlegt». Wobei das nicht ganz stimmt. Die NetzpolitikerInnen von der Piratenpartei kommentierten denn auch umgehend auf Twitter: «Die Leute wissen eh, wer die echten Netzpolitiker sind.» Aber im Kern ist die Feststellung der Grünen richtig: Keine andere in Bundesbern etablierte Partei hat sich bislang grundsätzlich und vertieft mit Fragen rund um das Internet beschäftigt.
Auf der Suche nach einem ähnlichen Grundsatzpapier bei anderen Parteien verlaufen die Anfragen ähnlich: «Wie bitte? Zu welchem Thema?», «Einen Moment bitte …», «Nein, mir ist dazu nichts bekannt.» Und dann beeilen sich die GeneralsekretärInnen aller Parteien zu betonen, dass man doch schon vor Jahren «etwas zu Internetkriminalität» gesagt oder in einem Bildungspapier «die Bedeutung des Internets» hervorgehoben habe. Am Ende aber bleibt nur ein Eindruck übrig: Die Politik steckt – was netzpolitische Debatten angeht – auch im Jahr 2012 noch im digitalen Tiefschlaf. Und jetzt eine «Grüne Netzpolitik». Werden die Grünen also die neuen PiratInnen?
Mittagessen mit Balthasar Glättli, der treibenden Kraft der Grünen in netzpolitischen Fragen. Dass sich bislang keine andere Partei mit dem Thema beschäftigt hat, findet er «angesichts der Relevanz des Internets und der Mobilkommunikation krass». Und ehe man sichs versieht, steckt man tief in einer Detaildiskussion, wie das Urheberrecht im digitalen Zeitalter so ausgestaltet werden kann, dass Kulturschaffende angemessen entlöhnt werden können, ohne gleich eine «Internetpolizei» einzuführen. Glättli persönlich liebäugelt mit einer Kulturflatrate, der Zahlung eines Pauschalbetrags für einen Internetanschluss, und vergleicht sie mit der «Leerträgerabgabe» auf Kassetten und CDs, um dann sofort auf die Knackpunkte einzugehen: Wo zieht man die Pauschale ein: beim Provider oder bei der Endnutzerin? Worauf soll sie erhoben werden: Auf den Anschluss oder auf eine Person? Und allenfalls auch abhängig von der genutzten Bandbreite? Wie soll das Geld verteilt werden?
Netz für alle
Man könnte mit Glättli jetzt Stunden über Details debattieren, aber genau darum ist es den Grünen mit ihrem netzpolitischen Grundsatzpapier nicht gegangen – keine schnellen Patentlösungen, keine raschen Antworten auf vermeintlich virulente Fragen. Zu oft werden netzpolitische Themen kurz aufgekocht und dann wieder vergessen. Stattdessen: grundsätzliche Haltungen, mit denen man an die Probleme herangehen kann. Man lässt sich dabei von den Grundrechten leiten, als Eckpfeiler einer grünen Netzpolitik.
Balthasar Glättli erklärt es so: «Es ist eine Chance, dass die Netzpolitik noch nicht im klassischen Links-Rechts-Schema verortet ist. Wir lassen uns in diesen Fragen von unseren Werten leiten. Die Linke macht zu oft den Fehler, dass sie glaubt, Politik heisse: Wie löse ich Probleme? Stattdessen müssen wir über unsere Werte reden. Das ist es, was die Menschen interessiert.»
Ein zentraler Punkt des Papiers ist denn auch der universale Zugang zum Netz für alle, das Internet soll als Service Public begriffen werden, ohne Schranken, ohne Monopole. «Ein leistungsfähiger Breitbandanschluss», sagt Glättli, «muss heute zum Minimalstandard gehören. Nicht nur wer sich informieren will, auch wer als Sozialhilfebezüger Arbeit sucht, ist auf einen Anschluss angewiesen.» Aber es geht nicht nur um den Zugang, sondern auch um die gleichberechtigte Übermittlung von Datenpaketen. «Wir wollen kein Zweiklasseninternet», sagt Glättli. Es soll keine Filter geben, keine Sperrungen – und auch keine schnellere Übertragung von Informationen gegen Aufpreis. Die Netzneutralität soll im Gesetz verankert und in internationalen Abkommen festgeschrieben werden.
Auch der Schutz der Privatsphäre ist den Grünen wichtig. «Wir wollen keinen gläsernen Bürger», sagt Glättli, «und ebenso wenig gläserne Konsumenten.» Die NutzerInnen des Internets müssten vor Datenmissbräuchen Privater geschützt werden. Und die oft geforderte Cybersicherheit dürfe nicht als Deckmantel für einen Schnüffelstaat herhalten. Angestrebt wird ein «Recht auf Vergessen» im Internet, die anonyme und pseudonyme Kommunikation im Netz müsse erlaubt bleiben. Glättli verweist auf das Datenschutzgesetz, das seit 1992 kaum revidiert wurde, während man alle paar Jahre Asyl- und Ausländergesetze verschärfe. «Und das, obwohl wir in einer Zeit leben, in der Datensammlungen, Netzwerke und elektronische Kommunikation bedeutender sind als je zuvor.»
Es wäre aber keine grüne Netzpolitik, wenn nicht auch der ökologische Aspekt Eingang in das Papier gefunden hätte. Die Grünen sehen hier nicht nur Bedarf bei den grossen Datenfarmen, sondern vor allem auch bei den EndnutzerInnen, deren Geräte viel Energie verbrauchen.
Piraten: «Gefällt uns»
Den Grünen ist mit der Verabschiedung des Grundsatzpapiers eine kleine Überraschung gelungen. Verlor die Partei in jüngster Zeit zunehmend die Themenführerschaft bei ihren Kernthemen – etwa beim ökologischen Umbau oder beim Ausstieg aus der Atomkraft – eröffnet sie sich ein neues Feld, das bislang ein weisser Fleck auf der politischen Landkarte war. Dafür ernten die Grünen Lob: «Vieles in diesem Papier dünkt mich gut und auch sehr kompatibel mit unseren Positionen», sagt Denis Simonet, ehemaliger Piratenpräsident und heutiger Parteisprecher.
Das ist nicht weiter erstaunlich: Abgesehen vom Hinweis auf einen ökologischen Umgang mit neuen Technologien erinnern viele Punkte an das Parteiprogramm der Piraten. Simonet kannte den Entwurf denn auch schon vor dessen Verabschiedung und wurde von den Grünen um fachliches Feedback gebeten. Er sei froh, dass sich nun auch eine andere Partei grundsätzlich mit Netzpolitik auseinandersetze. «Das war bisher nicht der Fall. Für die meisten Parteien galt: Es gibt ein echtes Leben und nebenbei das Internet. Das ist eine verkehrte Herangehensweise.» So sei in Vergangenheit immer nur über Einzelthemen diskutiert worden, ohne auch mal grundsätzlich zu werden. Das Positionspapier der Grünen könne einen Anfang darstellen: «Vielleicht können wir in Zukunft auch Grundsatzdiskussionen führen.»
Offenbar machen sich nach den Grünen nun auch andere Parteien an die Arbeit. SP, FDP und BDP erklären auf Anfrage jedenfalls, dass man das Thema in Arbeitsgruppen diskutiere und die Arbeit demnächst vorantreiben wolle. Bis Ende Jahr sollten dann auch erste Positionen feststehen.