Der Mittelstand: Von der Grösse der Leute
In der Sprache der Politik ist der «Mittelstand» allgegenwärtig. Doch taugt der Begriff, um die gegenwärtige Klassengesellschaft zu beschreiben?
Es ist ein harmloser Vormittag, und am Telefon trifft mich einmal mehr die beliebte Journalistenfrage, die nie als Frage formuliert wird: «Herr Lenz, Sie schreiben über die kleinen Leute.»
Was soll ich auf einen derartigen Satz antworten? Schreibe ich über oder für kleine Leute? Vermutlich sind mit den kleinen Leuten einfach die gemeint, die weniger Schulen besucht haben und weniger Geld verdienen als diejenigen, von denen sie immer als «kleine Leute» bezeichnet werden. Kleine Leute sind immer die anderen.
Und was folgt auf die kleinen Leute? Was liegt oberhalb der kleinen Leute? Wohin könnte es sie ziehen? In den Mittelstand. Natürlich: der Mittelstand, dieser mittlerste aller Stände, der irgendwann in der vermuteten Mitte zwischen einer kleinen Ober- und einer weniger kleinen Unterschicht einzementiert worden ist, und seither tun wir so, als sei er für immer der Stand der breiten Masse.
PolitikerInnen erklären uns oft und gerne, wozu der Mittelstand gut sei. Fast alle Parteien, von Mitte links bis ganz rechts, politisieren für den Mittelstand. Der Mittelstand garantiere politische Stabilität. Ohne Mittelstand sei eine Demokratie nicht denkbar. Der Mittelstand erarbeite das Vermögen, das die Oberschicht gewinnbringend anlegen möchte und die Unterschicht vom Staat nachgeworfen bekomme. Der Mittelstand ist dem Anschein nach die breite Masse derer, die sich einen Wintergarten, einen Mittelklassewagen, eine dezente Tätowierung am Fussgelenk und jährlich zwei Wochen Ferien am Meer leisten können, ihren Rauschmittelkonsum unter Kontrolle und ihre Zähne repariert haben und am Morgen die Gratiszeitung lesen.
Aufgesplittert in Communitys
Wenn ich also am Meer liege, liegt der Mittelstand genau neben mir. Stecke ich auf der Autobahn im Stau, steckt vor und hinter mir der Mittelstand. Nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit bin ich ständig umgeben vom Mittelstand, aber ich erkenne ihn nicht.
In der Sprache der Politik ist der Mittelstand allgegenwärtig. Im Alltag ist er nur noch eine Worthülse. Ein solcher Begriff taugt nicht, um die Klassengesellschaft zu erklären, die mich umgibt. Es gibt zu viele Verschiebungen, zu viele Variabeln, zu viele Ungewissheiten innerhalb dieser Gesellschaft, zu viele Unterschiede selbst in diesem «Mittelstand».
Frage ich die Menschen um mich herum, ob sie dem Mittelstand angehören, folgt ein hilfloser Blick ins Leere. Der einzelne Mensch mag dem Mittelstand angehören, aber es gibt kein Mittelstandsbewusstsein. Dafür gibt es eine «Tchibo-Mobile-Community», der anzugehören sich dank «Community-Flatrate» lohnt. Es gibt eine «enyLab Community», in der «Sie die gleichen Rechte haben wie alle anderen Experten». Es gibt eine «20-minuten-Online»-Community. Es gibt unzählige Communitys mit unzähligen Preisvorteilen.
Meine Zugehörigkeit zum Mittelstand wurde mir nie mit einer Kundenkarte bestätigt. Dagegen habe ich Schubladen voller Community-Cards von Kleidergeschäften, Supermarkt- und Restaurantketten, Versicherungen und Versandhäusern. Der Mittelstand ist aufgesplittert in Tausende von Communitys, denen wir jeweils so lange angehören, wie wir in einer Kundenkartei geführt werden.
«Mittelstand» bezeichnet nichts Greifbares. In einer Zeit, in der immer mehr Menschen Angst um ihre soziale Stellung, um ihre Jobs, Renten und ihre Zukunft haben, wird der Begriff zur Worthülse, die manche soziale Wahrheit kaschiert.
Zwar haben einige von uns im Hinterkopf noch die Idee, es gebe unten die kleine Gruppe der kleinen Leute und oben ein paar Reiche und dazwischen die breite Mittelschicht. Die Wirklichkeit erfahre ich anders: Es gibt in der Schweiz eine Oberschicht, die, verglichen mit anderen Ländern, relativ breit ist. Die grosse Mehrheit aber besteht aus Leuten, die sich mehr oder weniger abstrampeln und hoffen, einmal aufzusteigen. Doch die weit verbreitete Hoffnung, die Grenzen zwischen oben und dieser in sich heterogenen Mehrheit seien durchlässig, erweist sich zunehmend als Illusion. Wer nicht der Oberschicht angehört, strampelt, kämpft, setzt Ellbogen ein, riskiert die Gesundheit und merkt in der Regel nicht, dass etwas an diesem Kampf nicht stimmt.
Die Butterregel der Oberschicht
In den Ländern, die von der Finanz- und Wirtschaftskrise betroffen sind, lässt sich erkennen, was uns diesbezüglich bevorstehen könnte. In Spanien wird dem Personal im öffentlichen Dienst, also lauter Leuten, die früher der Mittelschicht zugerechnet worden wären, jede soziale Errungenschaft der letzten Jahrzehnte abgesprochen. Wer sich gegen Rentenabbau oder schlechtere Sozialleistungen wehrt, wird von den Regierenden als «reaktionär» beschimpft. Alle müssten ihre Opfer bringen, heisst es. Mit «alle» sind freilich nur die Angehörigen des ehemaligen Mittelstands und der Unterschicht gemeint. Die Oberschicht bedient sich der Klassenrhetorik, die einst der Linken gehörte, um den Mittelstand aufzulösen. Reaktionär sind jetzt diejenigen, die sich gegen Sozialabbau wehren und partout nicht einsehen wollen, dass Steuergeschenke für SpitzenverdienerInnen ökonomisch sinnvoll sind.
Zu dieser Entwicklung passt es, romantisierend von den «kleinen Leuten» zu reden. In den Augen der politisch bestimmenden Oberschicht sind die kleinen Leute diejenigen, die sich klaglos unten einreihen. Die Reichen mögen kleine Leute, die einsehen, dass es in schweren Zeiten keine Arbeitsplatzsicherheit geben kann, die nötigenfalls auch am Sonntag für einen Hungerlohn im Verkauf arbeiten und sich nicht wehren, wenn die Schere zwischen den obersten und untersten Einkommen täglich weiter auseinandergeht. Wer sich da noch dafür wehrt, einer Schicht anzugehören, die früher als staatstragend gerühmt wurde, und sich bemühen muss, nicht in die Armut abzurutschen, ist nicht flexibel.
Zuweilen habe ich den Verdacht, dass die als Aussage formulierte Journalistenfrage «Herr Lenz, Sie schreiben über die kleinen Leute» ein versteckter Befehl ist. Immer harmlos und immer voller Empathie über kleine Leute zu schreiben, hiesse nämlich, so zu tun, als sei in diesem Land alles in Butter. Und die Butterregel der steuererleichterten Oberschicht in der Schweiz geht ungefähr so: der Mittelstand aufgelöst, die kleinen Leute still und literarisch verklärt, für Asylsuchende acht Franken Nothilfe am Tag, und wer sich dagegen auflehnt, ist reaktionär oder unflexibel.
Dieser Beitrag ist eine redaktionelle Begleitung der neusten Veranstaltung in der Diskussionsreihe «Zur Lage der Republik» am kommenden Montag (1. Oktober 2012, 20 Uhr, Buchbar Sphères, Hardturmstrasse 66, Zürich). Rutscht der Mittelstand ab Richtung Prekariat? Wehrt er sich mit Tritten nach unten und Buckeln nach oben? Darüber diskutiert der Historiker Jakob Tanner mit dem Psychoanalytiker Peter Schneider.
Das Netzwerk für Philosophie und Psychoanalyse Entresol, die Zürcher Buchbar Sphères und die WOZ organisieren unter dem Titel «Zur Lage der Nation» sechsmal im Jahr unterhaltsame Debatten zu aktuellen Themen.