Porträt: «Müssen wir Frauen uns etwa abschaffen?»
Wer hat warum keine Zeit? Und was hat das mit Geschlechtern zu tun? Solche Fragen beschäftigen die Historikerin Tove Soiland. Sie nahm an der Veranstaltungsreihe «Zur Lage der Republik» teil.
«Ich wollte die Welt verstehen, nicht eine akademische Karriere machen.» Tove Soiland sagt das beiläufig. Aber dass sie es ernst meint, steht ausser Zweifel. Das zeigen auch die Themen, mit denen sie sich beschäftigt: Feministische Ökonomiekritik ist an den Universitäten bestenfalls eine Nische, und die Theoretikerin Luce Irigaray, über die Soiland dissertiert hat, gilt in der deutschsprachigen Geschlechterforschung als veraltet und uncool. Aber um akademische Moden kümmert sich Soiland nicht. Sie hat Lehraufträge in Zürich und Hannover und leitet Seminare für das Frauenforum der Gewerkschaft VPOD.
Tove Soiland wurde 1962 in Zürich geboren. Ihr Vater war aus Norwegen gekommen, um zu studieren, lernte eine Zürcher Chemiestudentin kennen und blieb. Die Chemiestudentin stammte aus grossbürgerlichem Haus und träumte davon, Swissair-Pilotin zu werden – doch das durften Frauen nicht. So liess sie sich in den sechziger Jahren zur Kunstfliegerin ausbilden. 1969 kam sie bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. «Es kann sein, dass ich von ihr den Feminismus ein bisschen geerbt habe», sagt Tove Soiland. «Aber sie starb zu früh, als dass ich das genau sagen könnte.»
«Die Krise wird zu euch kommen»
In den achtziger Jahren begann Soiland, in Zürich Geschichte und Philosophie zu studieren. Zur selben Zeit kam sie auch zur Frauenbewegung. Eine Reise nach Ecuador, Argentinien und Chile politisierte sie weiter. «Damals war Lateinamerika in einer Schuldenkrise wie heute die EU-Länder. Feministische Wissenschaftlerinnen untersuchten, wie die Sparprogramme des Internationalen Währungsfonds die Situation der Frauen verschlechterten. Ich traf schon damals in Ecuador Leute, die sagten: Diese Krise wird auch zu euch kommen.» Aus dem Bedürfnis, den Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Geschlechtern zu untersuchen, entstand die Arbeitsgruppe Frau und Geld, zu der auch Ökonomin Mascha Madörin gehörte.
Doch Anfang der neunziger Jahre begann Soiland an einer seltenen neurologischen Krankheit zu leiden, konnte zeitweise nicht mehr gehen und auch nicht mehr schreiben. Mehrere Jahre beschäftigte sie sich nicht mehr mit feministischer Politik. «Als ich zurückkam, verstand ich die Welt nicht mehr.» Das Wort «Feminismus» war out, Frauenbuchhandlungen machten zu, «überall ging es um Gender, nicht mehr um Frauen». Die akademische Genderdebatte, stark von der US-amerikanischen Philosophin Judith Butler geprägt, hatte die Schweiz erreicht. Eine oft sehr theoretische, schwer verständliche Debatte. Soiland: «Das Argument war: Wer von einem feministischen ‹Wir› ausgeht, setzt Gemeinsamkeiten zwischen Frauen voraus, die es nicht gibt, und beteiligt sich an der Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit, statt sie zu überwinden.»
Ihr gehe es aber gar nicht um die Abschaffung der Geschlechter, sondern um die Abschaffung der Hierarchie zwischen ihnen: «Die Vorstellung, dass wir Frauen uns abschaffen müssen, um uns zu befreien, finde ich absurd. Marx sagte zu den Arbeitern auch nicht: Schafft euch ab, dann verschwindet der Kapitalismus.» Sie habe nichts dagegen, dass Butlers Theorien gelehrt würden – «mich stört ihr Absolutheitsanspruch». Soiland kritisiert auch, dass an den Gender-Studies-Abteilungen vieler Universitäten ökonomische Themen nicht vorkommen. Dabei seien Fragen von bezahlter und unbezahlter Arbeit, von Zeit und Lohn entscheidend für den Alltag fast aller Frauen. «Vielen jungen Frauen, die ich an der Universität treffe, ist bewusst, dass ihre Mütter nicht zufrieden waren mit ihrem Hausfrauendasein und schlecht bezahlten Nebenjobs. Sie glauben, dass es für sie dank ihrer guten Ausbildung besser sein wird. Aber wer wird die unbezahlte Arbeit leisten?»
Liebe wird planbar
Soilands 2003 in der WOZ veröffentlichter Text «Das Spiel mit den Geschlechtern – eine Sackgasse?» führte zu einer heftigen Debatte in Fachkreisen. Sie habe sich über das Echo gefreut, aber manchmal auch persönlich angegriffen gefühlt, sagt die Historikerin heute. «Oft hiess es, ich würde den jungen Gender-Studies-Abteilungen in den Rücken fallen. In Deutschland war die Diskussion entspannter und konfliktfreudiger zugleich.»
Auch über die Anfrage des Psychoanalytikers Daniel Strassberg, an der von der WOZ mitorganisierten Veranstaltung «Wird das Private zur einzigen Politik?» teilzunehmen, hat sich Tove Soiland gefreut (vgl. Hausmitteilung auf Seite 2 und Inserat auf Seite 6). Sie sehe bei ihren Studentinnen, dass die Liebe immer mehr zu einer planbaren, pragmatischen Sache werde, was ihr sehr fremd sei. Doch findet nicht gleichzeitig eine Romantisierung statt? «Diese pompösen Hochzeiten … Ich frage mich, ob es da wirklich um Romantik geht oder eher um Status und Konsum. Eine wirklich leidenschaftliche Beziehung käme ohne das aus.»