Nadine Gordimer: «Keine Zeit wie diese» : Katerstimmung am Kap der Hoffnung

Nr. 41 –

Was wird aus Menschen, die im Ausnahmezustand gelebt haben, im Alltag des neuen Südafrika? Nadine Gordimer, die berühmteste Chronistin des Landes, beschreibt mit unbestechlichem Blick.

Als diesen Sommer die Bilder der streikenden südafrikanischen Minenarbeiter um die Welt gingen, fühlte man sich an das Jahr 1976 erinnert: an den Aufstand in Soweto, der wie kaum ein anderes Ereignis den südafrikanischen Kampf gegen die Apartheid symbolisiert. Nur dass es diesmal auch Schwarze waren, die auf schwarze Landsleute schossen, befehligt von einer schwarzen Mehrheitsregierung (siehe auch WOZ Nr. 40/12 ).

Südafrika, konstatierte die Schriftstellerin Nadine Gordimer vor zwei Jahren, leide nach der Ära Mandela (1994–1999) an einem «nationalen Kater». Im April dieses Jahres alarmierte sie die Öffentlichkeit mit einem Bericht in der «New York Review of Books» über die von Jakob Zuma angekündigten Zensurmassnahmen gegen Medien- und Kulturschaffende. Der Präsident, seit Jahren unter Korruptionsverdacht, versucht seine KritikerInnen mundtot zu machen.

Die Ernüchterung, die die Gesellschaft am Kap erfasst hat, schlägt sich leise auch in «Keine Zeit wie diese» nieder, dem grossen und vielleicht letzten Roman der 88-jährigen Nobelpreisträgerin. Irgendwann, prophezeite sie schon vor drei Jahrzehnten, werde es in Südafrika nur ein Davor und ein Danach geben. «Keine Zeit wie diese» umkreist wie schon «Niemand, der mit mir geht» (1995) diese Zäsur: Was wird aus Menschen, deren Leben immer nur Ausnahmezustand und Kampf war, wenn sie in der Normalität eines mittelmässigen Alltags ankommen?

«Bourgeoisie der Genossen»

Auch Steve und Jabuleh, die ProtagonistInnen in «Keine Zeit wie diese», haben ihre Identität im gemeinsamen Kampf entwickelt. Der aus der christlich-jüdischen Mittelschicht stammende Chemiestudent Steve hatte seine Fähigkeiten der Umkhonto we Sizwe, dem militärischen Arm des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC), zur Verfügung gestellt; Jabu, die als bevorzugte Tochter eines schwarzen Schuldirektors in einer ländlichen Bergarbeitersiedlung aufgewachsen war und in Swaziland studieren durfte, schloss sich ebenfalls der Guerillabewegung an.

Jahre nach der Befreiung findet sich das Paar, das mit seiner Heirat gegen die Rassengesetze verstossen und nur geduldet gelebt hat, nun als Teil der «Bourgeoisie der Genossen» in einem hübschen Häuschen in der Vorstadt wieder. Steve glaubt, seinem Land besser an der Universität nützen zu können als in der Industrie; Jabu studiert ein zweites Mal, Jura diesmal, und unterstützt als Anwältin die benachteiligten Schwarzen.

Aber auch wenn sich die beiden mit ihren kleinen Kindern einrichten, ihre beruflichen Ziele verfolgen und sich mit ehemaligen MitstreiterInnen und einst verfolgten Schwulen umgeben: Vor der Realität in Johannesburg können sie ihre Augen nicht verschliessen. Mit den Millionen Flüchtlingen, die aus Zimbabwe hereinströmen, nehmen in der Metropole die sozialen Spannungen in der schwarzen Bevölkerung und das Elend in den Slums zu. Die Bildungsdefizite der schwarzen Studierenden lassen sich kaum mehr verleugnen. Und als ob das Land nicht Probleme genug hätte, ist Zuma im Begriff, den in dieser Zeit amtierenden Präsidenten Thabo Mbheki (1999–2008) zu verdrängen. An Zuma scheiden sich die Geister der vormals geschlossen agierenden KämpferInnen: Soll man loyal zum ANC stehen oder sich in Stellung bringen gegenüber Misswirtschaft und Korruption?

Aufstieg in die schwarze Mittelschicht

Es gehört zu Nadine Gordimers Stärken, grosse Politik in den Schicksalen ihrer Figuren zu spiegeln und auszuloten. Mit dem Aufstieg in die schwarze Mittelschicht werden für Steve und Jabu die alten Ideale und Bindungen auf die Probe gestellt, jede noch so banale Entscheidung misst sich an den einstigen Zielen. Etwa wenn der widerborstige Sohn in eine zwar rassisch gemischte, aber nach Geschlechtern separierte Eliteschule geschickt werden soll oder Steve und Jabuleh gegen jede Überzeugung an einer Bar Mitzwa teilnehmen, weil Steves Bruder plötzlich seine jüdische Herkunft entdeckt hat. Selbst eine Reise nach London birgt Gefahren, weil Steve Einblick in ein Leben erhält, das er als Weisser hätte führen können, «wenn es den Kampf nicht gegeben hätte».

Als Steve sich mit dem Gedanken trägt, nach Australien auszuwandern, gerät das Paar in Turbulenzen, denn «er lässt nicht zurück, was sie, Jabuleh, zurücklässt»: ihre südafrikanischen Wurzeln nämlich, die tiefer reichen als die ihres Mannes. Und stehen die einstigen KämpferInnen nicht auch in der Schuld, einzulösen, was ihre Bewegung einst versprochen hat?

Das doppelperspektivisch vorgestellte und in Rückblenden gespiegelte neue Südafrika ist farbig wie Mandelas Regenbogennation. Besonders dicht wird der Roman, wo Gordimer Zwischenmenschliches wie etwa die innere Zerrissenheit des Paares sondiert. Der eher traditionelle, vom Satzbau her anspruchsvolle und gelegentlich strapazierende Erzählgestus ist dabei kein Nachteil, wohl aber die ausschweifenden Kommentare, mit denen die Autorin nachträgt, was an Fakten und Hintergründen nicht einzufangen ist. Weshalb auch in der deutschen Ausgabe mehrfach «das klandestine Zusammenleben» des «klandestinen Paares» in der «Klandestinität von Glengrove Place» beteuert werden muss, bleibt das Geheimnis der Übersetzerin.

Doch solch Mäkelei an verunglückten Bildern und Sätzen verbietet sich angesichts einer literarisch-chronistischen Klarsicht und Unbestechlichkeit, die auch jetzt, wo Südafrika neuen Gefährdungen ausgesetzt ist, nicht nachgelassen hat. Nadine Gordimer hat den weit gespannten Roman ihrem Mann Reinhold Cassirer gewidmet, der nach der Flucht aus Deutschland am Kap ein zweites Leben fand. Auch an das Exilland Südafrika erinnert die Autorin, selbst wenn ihre Geschichte von einem Exodus handelt.

Nadine Gordimer: Keine Zeit wie diese. Roman. Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Berlin Verlag 2012. 506 Seiten. Fr. 32.50