Die YouTube-Welt: Hier wird das Aktuelle geschaffen

Nr. 42 –

Auf YouTube lässt sich wunderbar Musik hören und sehen. Warum sollten wir da noch wirkliche Konzerte besuchen?

Vielleicht werden wir in zwanzig Jahren mitleidig auf die wenigen Menschen herabschauen, die tatsächlich noch leibhaftig Konzerte besuchen. Wie drollige Mammuttiere aus einer anderen Zeit werden sie uns erscheinen, die wir uns seit Jahren im Digizeitalter des Musikhörens bewegen. Bereits heute ist das digitale Konzert allgegenwärtig – dank YouTube. Wer ein virtuelles Konzert besucht, der hat zwar zugegebenermassen nicht dasselbe Erlebnis wie beim Besuch einer wahrhaften Aufführung. Wie aber ist zu erklären, dass Millionen Menschen sich täglich YouTube-Konzertmitschnitte anschauen? Über zwei Milliarden Mal pro Tag werden YouTube-Filmchen angeklickt. YouTube bedeutet wörtlich «du sendest», und es gibt scheinbar unendlich viele Leute, die diese Filmchen mit Konzertausschnitten ins Netz stellen: Jede und jeder kann Musikvideos hochladen und einen Beitrag leisten.

Das breite Angebot ist nur einer der Faktoren, die den virtuellen YouTube-Musikclub, so könnte man diesen Ort nennen, hip machen. Diesen Club kann man ohne längere Vorausplanung besuchen – er hat immer geöffnet. Die Konzerte sind nie ausverkauft, und ihr Besuch ist erst noch gratis. Zudem ist dieser Musikclub immer topaktuell, ja er schafft gar das Aktuelle. Der südkoreanische Rapper Psy etwa wurde diesen Herbst zum Weltstar, weil sein Video «Gangnam Style» auf YouTube über 400 Millionen Mal angeklickt wurde. Der YouTube-Musikclub bedient aber nicht nur den Mainstream: Vom US-amerikanischen Underground-Komponisten La Monte Young, einem der Urväter der Minimal Music, ist auf CD keine Musik mehr erhältlich – auf YouTube findet man mühelos sein «Well Tuned Piano». Ein Herr Stanchinsky hat es vor zwei Jahren hochgeladen – besten Dank!

Konzertante Zeitreisen

Mit YouTube kann man sich auch auf Zeitreise begeben. Die 1959 verstorbene Jazzsängerin Billie Holiday werden wir nie mehr live sehen können – auf YouTube aber begegnen wir ihr und ihrem Song «Strange Fruit». Das Schönste am YouTube-Musikclub bleibt, dass ich hier mein eigener Impresario bin, der individuelle Konzerte zusammenstellen kann. Auch beim «Konzertbesuch» gibt es keinerlei Einschränkungen: Ich kann reden und rufen, kommentieren und kalauern, und selbst noch beim sensibelsten Adagio einer Schubert-Sinfonie darf ich ein Dosenbier öffnen. Noch besser: Bei Langeweile kann ich jederzeit und ohne jemanden zu stören rausschlendern.

Genauso wie einst auf Tonträger gespeicherte Musik nach anderen Regeln funktionierte als Musik, die nur im Konzert und einmalig erklingt, so erschafft auch der YouTube-Musikclub einen neuen Musikort mit eigenen Gesetzen. Ein von mir zusammengestelltes YouTube-Konzert muss bunter sein als ein Livekonzert. FernsehregisseurInnen wissen: Musik am Bildschirm erfordert mehr Abwechslung als Musik auf der realen Bühne. So hört und sieht man in einer halbstündigen heimischen YouTube-Session zuerst John Coltrane, dann die Sex Pistols, dann Karlheinz Stockhausen. Wäre das schlecht? Nein, auch in der heutigen Literatur kann man nicht mehr so episch erzählen wie einst Leo Tolstoi, der sehr lange beim selben Sujet verweilte. Ausnahmen wie Peter Nadas und seine «Parallelgeschichten» bestätigen die Regel.

Virtuelle Gratiskonzerte

Und doch lassen sich im YouTube-Musikclub auch die Langsamkeit und die Vertiefung kultivieren. Nach einem Clip drücke man den Replay-Button: Und die ganze Herrlichkeit erklingt noch einmal. Das ist eine Chance: Der Clip «Strange Fruit» von Billie Holiday dauert 2 Minuten und 28 Sekunden. Im ersten Durchgang erfasst man vielleicht den grossen Bogen, beim zweiten schon etwas mehr, beim dritten die Nuancen und Inhalte. YouTube stellt aber auch weiterführende Videoangebote bereit: Man kann nach «Strange Fruit» gleich zum Zehnminutenvideo «The Story Behind Billie Holiday» übergehen. Oder eine BBC-Dokumentation über Rassismus in den USA anklicken. YouTube liefert Kommentare und Hintergründe zu den Songs.

Gewiss birgt der YouTube-Musikclub auch viele Gefahren. Die leichte und kostenlose Verfügbarkeit der Musik kann dieselbige – wie beim Download – arg entwerten. Kaum ein Gut wird heute so gedankenlos gratis konsumiert wie Musik. Dem arbeitet der YouTube-Musikclub kräftig in die Hände.

Am Ende kann man doch nicht ganz verzichten auf Livekonzerte mit echten MusikerInnen und einem enthusiastischen Publikum, das hustet und mitfiebert. Bei aller Begeisterung für YouTube: Es ist nicht anzunehmen, dass dieses Portal die realen Musikorte gänzlich verdrängt. Die Mammuts strömen auch in zwanzig Jahren noch zu den Konzerten – sonst gehen YouTube irgendwann die Filme aus.

Christoph Merki ist Jazzsaxofonist, Musikpublizist und Professor an der Zürcher Hochschule der Künste.