Pop: Mit schrillem Sound gegen das alte Stinktier
Die Ausstellung «Seismographic Sounds» in Aarau sucht nach neuen Koordinaten im globalisierten Pop. Und steckt mit ihrer Neugier an.Von Kaspar Surber
Die Kinobox sieht aus wie ein Fahrzeug: hinten eine Rückbank, vorne wie eine Windschutzscheibe die Leinwand. Los geht die Fahrt, die erste Destination heisst Nigeria. Über die Leinwand flimmert ein Musikclip von Temi DollFace. Die Sängerin, die ihren Stil selbst als «Drama Soul» bezeichnet, mimt eine US-Hausfrau aus den Fünfzigern, die ihre Geräte anpreist: den Pata-Pata-Staubsauger, der die Streitigkeiten wegbläst, und wenn gar nichts mehr hilft, das Pata-Pata-Fluchtauto, um den missliebigen Ehemann zu verlassen – die Retrokulisse dient der feministischen Befreiung. Die nächste Clip-Destination heisst Pakistan. Die Rapper Ali Gul Pir und Adil Omar tanzen mit einem Youtube-Stoffwürfel, bis die Polizei diesen verhaftet. In Pakistan halten die Behörden die Videoplattform gesperrt, ausgerechnet das Konzernlogo wird zum Symbol für Meinungsfreiheit.
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Die Videos sind in der Ausstellung «Seismographic Sounds» im Forum Schlossplatz in Aarau zu sehen. Der Anspruch der Ausstellung greift hoch, will sie doch nichts weniger als Visionen einer neuen Welt aufspüren. Doch das Kunststück gelingt, dank unbändiger Neugier sowie eines Netzes mit programmatischem Namen: Norient. Der Begriff ist angelehnt an das Buch «Orientalismus» (1973) des Literaturwissenschaftlers Edward Said. Dieser beschreibt darin die Dichotomie zwischen «dem Westen und dem Rest» als grundlegend für die koloniale Herrschaft. Norient – «No Orient» – will diese Unterscheidung überwinden, mit offenem Blick in alle Himmelsrichtungen.
Die Idee zum Norient-Netz hatte der Berner Musikethnologe und Journalist Thomas Burkhalter. «Ich war es leid, meine Artikel über Untergrundmusik von ausserhalb Europas mit ‹Weltmusik› zu überschreiben und mit Folklorestars zu garnieren. Die Rapper in Kairo oder Beirut meinten: Vergesst endlich die Klischees, es gibt bei uns nicht nur Trommeln und Kamele.» So veröffentlichte Burkhalter seine Artikel abzüglich der Folklore als Blog – daraus wuchs Norient, das «Netzwerk für lokale und globale Musik und Medienkultur». Burkhalter ist überzeugt: «Die Trends in der Popmusik kommen in fünf bis zehn Jahren von ausserhalb der USA und Europas.» «Gangnam Style», der Youtube-Welthit des südkoreanischen Rappers Psy, war da nur Vorbote.
Die Ausstellung und das Buch dazu, ein bunter Wälzer, hat Burkhalter mit seinen KollegInnen Theresa Beyer und Hannes Liechti realisiert – und mit IdeengeberInnen aus aller Welt. «Wir wollen nicht drei Schweizer sein, die die Welt erklären», so Burkhalter. Auf einen Aufruf schickten Musikjournalisten, Wissenschaftlerinnen und Musiker die besten Clips aus ihren Ländern – mehr als 2000 trafen ein. Sie wurden nach den am häufigsten verhandelten Themen geordnet: Geld, Begehren, Einsamkeit, Krieg, Exotismus, Zugehörigkeit. Auch wenn Norient keine regelmässigen Subventionen erhält, schickte es Honorare zurück, damit die JournalistInnen nähere Informationen über die Clips einholen konnten: Die alte neutrale Schweiz als Mikrokredit-Drehscheibe in der neuen musikalischen Weltordnung.
Futuristischer Jahrmarkt
Warum aber Musikclips? Eine Antwort darauf gibt im Buch Temi DollFace, die – globalisierte Zeiten – nicht nur in Lagos lebt, sondern auch in London: «Wenn ich im Studio meine Musik komponiere, träume ich bereits davon, welche Kleider ich dazu im Video trage. Aus der Stimmung der Musik ergibt sich ein Bild.» Die Youtube-Clips sind ein Experimentierfeld, führt Thomas Burkhalter aus: «Hier werden neue Techniken, beispielsweise Kameraeffekte, erprobt.» Die Lust am Versuch beschreibt auch Regisseur Jovica Radisavljevic. Seine Motivation, Clips zu drehen, liege darin, «etwas von A bis Z selbst auf die Beine zu stellen». Sein Film zum Stahlberger-Song «Du verwachsch wieder nume i dinere Wonig» ist der Schweizer Beitrag in der Ausstellung.
Dass die Songs letztlich doch auf ihre Herkunftsländer zurückgeschrieben und so die Nationalstaaten reproduziert werden – darin liegt die einzige Schwäche des Ansatzes der Ausstellung. Wobei Burkhalter zu Recht sagt: «Die Lebensumstände vor Ort bleiben wichtig.» Ob in einem Land die Meinungsfreiheit gilt oder Künstlerinnen über eine Kreditkarte verfügen, entscheidet über ihre Wirksamkeit. In der Ausstellung, eingerichtet als futuristischer Jahrmarkt, stehen auch Hörrohre, durch die man Interviews mit den KünstlerInnen lauschen kann. Eindringlich klingt dasjenige mit dem pakistanischen Rapper Ali Gul Pir: «Wenn man Morddrohungen für seine Kunst erhält, muss man sich entscheiden: entweder ganz oder gar nicht. Den Entscheid fällt man alleine.»
Es ist diese Dringlichkeit, die die Songs und Clips auszeichnet. Und ihre Lust am formalen, schrillen Experiment. Der Sound aus den Kinoboxen und Hörrohren erinnert oft an Klingeltöne von Handys. Letztlich wirft die Ausstellung die Frage auf, aus welcher Quelle heute die Musik überhaupt stammt. Verstörend ist in dieser Hinsicht die Arbeit von Matthew Herbert. Der britische Elektromusiker baut seine Dancetracks aus Aufnahmen von Bombeneinschlägen und brachte sie auch schon unbemerkt unters Partyvolk. Eine Aufforderung, genauer zuzuhören und über die Produktion und Manipulation von Sounds nachzudenken.
Ab und zu wird es still in der Ausstellung, dann brüllt ein ausgestopftes Stinktier. Das Kunstwerk des Beiruter Künstlers Raed Yassin ist dem gefallenen Popstar gewidmet. Nein, wer gerne über die Retromanie des heutigen Pop jammert, findet in dieser Ausstellung keine Bestätigung. Der Klagegesang des Stinktiers klingt ganz schön nervig.
«Seismographic Sounds» in: Aarau, Forum Schlossplatz, bis 20. September 2015. Später an zehn weiteren Orten in der Schweiz und Europa. Die Publikation «Seismographic Sounds. Visions of a New World» ist bei Norient Books, Bern, erschienen (504 Seiten, 35 Franken, Infos und Bestellungen: www.norient.com).