Fumoir: Was war in der Höhle?

Nr. 42 –

Esther Banz denkt in Berlin über Kinder nach.

Ich bin jetzt auch mal wieder in Berlin. Und könnte mir richtig blöd vorkommen, im hippen Quartier mit dem Laptop in einem Café zu sitzen, links und rechts ebenfalls Menschen mit ihren Computern vor der Nase, aber die Sonne scheint und das Herbstlicht macht alles so weich, die Menschen und die Stimmung und sogar die Gedanken.

Das Letzte, was jetzt gerade hierhin passen würde, wären böse Gedanken. Aber immer, wenn man keine bösen Gedanken haben will, drängen sie sich einem umso mehr auf. Und so sehe ich diese Zeitschrift im Ständer, auf dem Titelblatt ein etwa siebenjähriges Mädchen, die Lippen dezent rötlich geschminkt, die stahlblauen Augen kühl und fast etwas überheblich in die Kamera blickend, die dunkelblonden Haare zu einem hochgesteckten Kranz frisiert, alles ist so perfekt an diesem Mädchen. So perfekt erwachsen. So perfekt kalt.

Ich blättere ein bisschen in der Zeitschrift und stosse auf lauter Inserate mit Kindermodels, die Buben keck, die Mädchen lasziv, verträumt, flehend.

Eine Zeitschrift für Pädophile also? Keineswegs, es handelt sich um das «erste Mode- und Lifestylemagazin für die Familie» und nennt sich «Luna». Es scheint, als wollten alle Modefirmen darin inserieren: Benetton, Armani, Guess, Pepe Jeans, Ralph Lauren, Dolce & Gabbana. Von Letzteren wird denn auch die «erste Kinderkollektion» redaktionell beworben, die neue Kleiderlinie orientiere sich stark an den Styles der Grossen und halte auch «extravagante Taufkleidung, Accessoires und Nachtwäsche bereit». Nachtwäsche für Kinder – vermutlich ist damit nur das «Pischi» gemeint.

Noch immer dringt das weiche Oktoberlicht durch das Schaufenster, im Hintergrund lauschiger Jazz, es ist nicht der Ort und nicht die Zeit für böse Gedanken. Aber weshalb ist es Erwachsenen ein Anliegen, Kinder so darzustellen, als wären sie Erwachsene? Und wie geht es wohl den Kindern, die diese Kleider herstellen, für die Unseren, drüben in Pakistan oder Bangladesch?

Wie ich das in meinen Laptop tippe, fällt mir ein, dass die Menschen bei der chinesischen Firma, die für mein Smartphone und vielleicht auch für meinen Laptop gearbeitet haben, auch sehr jung sind, auch wenn nicht ganz so jung wie die Kinder, die in Afrika ihr Leben aufs Spiel setzen, um … ähm, ja, was noch mal? Mist. Das Passwort heisst «happy-berlin», aber das Internet funktioniert leider gerade nicht. Schön blöd. Also gut, die Kinder, die in Afrika … äh, ich hab doch schon so oft darüber gelesen … sind das nun die Seltenen Erden, oder ist es Kupfer, oder wozu genau steigen diese Kinder in diese Höhlen? Ist das jetzt für mein Handy, oder war das für meinen Computer? Oder bringe ich da jetzt etwas durcheinander? Haben die Menschen in China mein Handy zusammengebaut, oder ist das «nur» eine Zulieferfirma? Das Internet könnte mir jetzt helfen.

Wie kann es nur sein, dass es in einem Café in Berlin-Mitte keinen Internetzugang gibt? Und weshalb haben die hier solche Zeitschriften rumliegen mit Kindern, die aussehen wie Erwachsene? Und ist es nicht so, dass vielleicht Kinder diese Kleider nähen, und ist es nicht grotesk irgendwie, dass diese Kinder genauso wenig Kind sein dürfen wie die Kinder, die in diese Kleider gesteckt und geschminkt und fotografiert werden?

Die Sonne verzieht sich langsam, und eine Stimme sagt: «Wenn man die Dinge zu Ende denkt, enden sie in der Apokalypse. Immer.» Ich möchte diese Stimme nicht näher kennenlernen, packe meine Sachen zusammen und mache mich auf den Weg, ein bisschen shoppen wäre jetzt nett.

Esther Banz ist freie Journalistin in Zürich.