Porträt: Immer weiter gegen die Obrigkeit

Nr. 44 –

Tom Locher wollte Buchhändler werden, doch er war zu scheu. Er wurde dann Anarchist. Nun kandidiert der Präsident der Berner Reitschule für das Stadtparlament.

Er habe eine «selbstzerstörerische Ader», sagt Tom Locher, und einen «Hang zum Radikalen». Foto: Manuel Gnos

Es war ein Abend im November 1987, der 17-jährige Thomas Locher aus Bolligen, einem Dorf bei Bern, war mit einem Kollegen in die Stadt gekommen, um sich im Kino einen Actionfilm anzuschauen. Was sie im Kino suchten, fanden sie bereits am Hauptbahnhof. Action. Sie sahen zu, wie Polizisten einen Sprayer verhafteten. Auf dem Boden blieb eine rote Lache zurück. Ob es Blut war oder Farbe, das weiss Tom, wie ihn alle nennen, bis heute nicht. Aber die Szene machte ihm Eindruck. Vielleicht hatte er damals zum ersten Mal dieses Gefühl, das er heute so artikuliert: «Das ist die Polizei der Obrigkeit. Die Polizei ist nicht für mich da. Sie ist gegen mich.»

Im November 1987 war Tom Locher weit davon entfernt, gegen die Staatsmacht aufzubegehren. Er war meist in seinem Zimmer in Bolligen und las. Buchhändler hatte er werden wollen, doch er war wohl zu scheu, um ein guter Buchverkäufer zu sein, ganz sicher war er zu scheu, um sich selbst überzeugend zu verkaufen. Rund hundert Bewerbungen hatte er geschrieben, schliesslich nahm ihn das Betreibungsamt. Als Tausende BernerInnen die Stadt einnahmen, für das Autonome Jugendzentrum Reitschule und gegen die Räumung des Hüttendorfs Zaffaraya kämpften, da war Tom Locher zu Hause und hörte das «Radio Zaffaraya» der jungen AktivistInnen, die die Berner Radiostationen besetzt hatten. Als sich die SchülerInnen vor seiner Berufsschule, dem heutigen Kulturzentrum Progr, zum Streik formierten, schaute er fasziniert zu und wagte nicht mitzumachen. Erst im Sommer 1988 besuchte er erstmals die Reitschule, aus Neugier. Bald nahm er dann teil an Protesten, diskutierte nächtelang, erfuhr, wie es sich anfühlt, an Kongressen Manager mit Abfall zu bewerfen. «Wir haben gemerkt: Man kann was machen gegen die herrschenden Zustände.» Nach der Lehre holte er das Gymnasium nach, die Reitschule war seine Heimat geworden, er wohnte dort, er wurde Präsident der Ikur, der Interessengemeinschaft Kulturraum Reitschule Bern.

Für subversiven Charme

Er ist es heute noch. Er ist einer von wenigen in seinem Alter, die geblieben sind, die meisten sind verschwunden. «Karriere, Familie, andere Projekte, Drogen, Krebs», sagt Tom Locher. Er aber bleibt aktiv, auch in der Mediengruppe. Er ist zu vernehmen, wenn wieder jemand mit Farbe gefüllte Flaschen auf Polizeiautos geworfen hat, wie ein paarmal in den letzten Wochen. Er vermisse bei diesen Aktionen «den subversiven Charme», sagt er, die Aktionen seien schlecht vermittelbar, nicht niederschwellig genug, um breiten Widerstand anzufachen. Und vor allem versteht er nicht, warum man vor der Reitschule Flaschen wirft und nicht auf das Hauptquartier der Polizei.

Auch bezahlte Arbeiten gibt es in der Reitschule, doch einer solchen geht Tom Locher schon lange nicht mehr nach. Er bezeichnet sich als «Aktivisten und Studenten», und zwar als einen «mit dem Privileg, ein Vorerbe zu beziehen». Toms Vater Heinz ist Präsident der Allianz der grössten Schweizer Krankenkassen – ja, jener Mann, der SP-Bundesrat Alain Berset unlängst von seinem Zweitwohnsitz London aus mit Hugo Chávez verglich, weil er die Krankenkassen enteignen wolle.

Schwarze Phasen

Es sei praktisch, dass er dank dem Vorerbe viel Gratisarbeit leisten und hie und da ausschlafen könne, sagt Tom Locher. Aber manchmal würde er lieber sein eigenes Geld verdienen, mit Gassenarbeit oder einer Kampagne für eine NGO. Über seine finanzielle Abhängigkeit denkt er lieber nicht allzu viel nach. «Es ist, wie es ist.» Manchmal geniesst er seine Freiheiten, manchmal hadert er mit seiner Existenz. Er habe eine «selbstzerstörerische Ader», sagt er, und einen «Hang zum Radikalen». Tom Locher raucht drei Päckchen Zigaretten pro Tag, und wenn er mal beginnt mit Computerspielen, dann hört er viele Stunden lang nicht mehr auf. Als ihm vor zehn Jahren bewusst wurde, dass er genug damit zu tun hat, zu sich selbst zu schauen, liess er sich unterbinden. Früher hatte er hie und da Phasen, in denen er nur noch schwarzsah. Seit er Medikamente nimmt, geht es besser.

Seit sieben Jahren studiert Tom Locher Geschichte und Sozialanthropologie. Buchhändler wird er nicht mehr werden, dafür ist er zu alt und, sofern er das Studium mal beendet hat, überqualifiziert obendrein. Vielleicht wird er stattdessen Politiker. Ende November tritt er bei den Stadtberner Wahlen für die Alternative Linke an, um einen Sitz im Stadtparlament einzunehmen. Dass er das Amt wirklich antritt, falls er gewählt wird, mag er nicht versprechen. Eigentlich, sagt der 42-Jährige, wäre es ihm lieber, die Jungen würden selbst Verantwortung übernehmen, statt sie an ihn zu delegieren. «Sie sollten besser einen Farbbeutel auf den Polizeiposten werfen oder ein Protestzelt in den Garten davor stellen, statt mich zu wählen.»