Psychiatrie und Justiz: Chefarzt mit Nebenwirkungen

Nr. 45 –

Starpsychiater Frank Urbaniok in der Kritik: Der Kanton Zürich ist sein Arbeitgeber, schmeisst das Sekretariat für seine private Firma und kauft seine Produkte. Urbaniok weist die Vorwürfe zurück.

Frank Urbaniok ist Chefarzt des Psychiatrisch-Psychologischen Diensts im Kanton Zürich und der bekannteste und umstrittenste Gerichtspsychiater im Land.

Gegen ihn stehen nun heftige Vorwürfe im Raum. Beim Zürcher Kantonsrat ist am 27. Oktober 2012 eine Aufsichtseingabe unter dem Titel «Vetternwirtschaft im Amt für Justizvollzug» eingegangen. In dieser Eingabe ist von «massiven Verflechtungen zwischen seiner rechtsstaatlichen und privatwirtschaftlichen Tätigkeit» die Rede, weil Urbaniok neben seiner 100-Prozent-Anstellung beim Psychiatrisch-Psychologischen Dienst (PPD) eine eigene Firma betreibt und zusätzlich auch noch als privater Gutachter Geld verdient. Ein anderer Vorwurf lautet, dass Urbanioks privatwirtschaftliche Arbeit von der Pharmaindustrie finanziert werde. Schliesslich wird dem PPD-Chef in einem konkreten Fall die «Androhung von Zwangsbehandlungen» gegenüber einem Straftäter vorgeworfen, der sich einer angeordneten Therapie verweigert habe.

Verfasser der Aufsichtseingabe ist der Thurgauer Michael Handel von der Organisation Kinder ohne Rechte (vgl. «Was treibt Handel an?» im Anschluss an diesen Text). Handel fordert eine parlamentarische Untersuchung der Tätigkeiten von Frank Urbaniok. Begleitend zur Eingabe hat Michael Handel einen vierzigseitigen Bericht im Internet veröffentlicht, in dem er versucht, die Vorwürfe detailliert zu belegen.

Frank Urbaniok, ein gebürtiger Kölner, kam 1995 nach Zürich. Zwei Jahre später war er bereits Chefarzt des Psychiatrisch-Psychologischen Diensts, einer Unterabteilung des kantonalen Amts für Justizvollzug. Jährlich betreut der PPD rund 1300 StraftäterInnen in den Gefängnissen des Kantons Zürich. Etwa 250 davon gelten als hoch rückfallgefährdete Gewalt- und Sexualstraftäter. Mit ihnen befasst sich Urbaniok schwerpunktmässig.

Risikobeurteilung am Computer

Dabei setzt er auf einen Behandlungs- und Therapieansatz, der ganz auf das Delikt ausgerichtet ist, die «deliktorientierte Therapie». Die zentrale Frage, die er damit beantworten möchte: Wie hoch ist die Rückfallgefahr? Wird diese als hoch bewertet oder weigert sich ein Straftäter, an der gerichtlich angeordneten ambulanten therapeutischen Massnahme teilzunehmen, kann das Amt für Justizvollzug Vollzugslockerungen oder Entlassungen verweigern. Das zuständige Gericht kann im Anschluss eine stationäre Massnahme anordnen: «Die Voraussetzung für eine stationäre Massnahme ist, dass ein Täter eine psychische Störung aufweist und dass diese Störung in Zusammenhang mit dem Delikt steht», heisst es beim Amt für Justizvollzug. 

Urbaniok hat vor sieben Jahren ein eigenes Risikoanalyse-System entwickelt. Bei diesem «Forensischen Therapie-Risiko-Evaluations-System», kurz «Fotres» genannt, handelt es sich um ein standardisiertes Computerprogramm. Es besteht aus 700 Kriterien, anhand deren angeblich das Risikoprofil eines Straftäters Punkt für Punkt ermittelt werden kann. Am Ende erscheint ein Wert zwischen null und vier – null steht für sehr geringe und vier für sehr hohe Rückfallgefahr.

Urbaniok vertreibt Fotres über seine eigene Firma Profecta AG, die offiziell in Freienbach (SZ) domiziliert ist und laut «Sonntag» eine «Briefkastenfirma» sein soll. Pikant dabei: Das Zürcher Amt für Justizvollzug gehört zu den Fotres-Kunden. Das Amt habe zu Vorzugsbedingungen von je 317 Franken für 59 AnwenderInnen eine Lizenz gelöst, schrieb Mitte Oktober der «Tages-Anzeiger». Dazu kommen noch die jährlichen Lizenzgebühren. Sie betragen über 200 Franken pro AnwenderIn. Die Profecta AG erhält vom Kanton Zürich folglich jedes Jahr rund 12 000 Franken. 

Überdies betreibt Urbaniok eine Praxis für forensisch-psychiatrische Beratungen und erstellt für externe AuftraggeberInnen Gutachten über Sexual- und Gewaltstraftäter. Gemäss «Sonntag» wirft diese Praxisarbeit einen jährlichen Gewinn von 64 000 Franken ab. Unter dem Strich kassiert Urbaniok fast 100 000 Franken an Nebeneinkünften. 

Sein Arbeitgeber, das Zürcher Amt für Justizvollzug, hat die Nebentätigkeiten bewilligt, wie es gegenüber der WOZ bestätigt.

Von der Pharma gesponsert?

Michael Handels Bericht wirft nun ein neues Licht auf diese Nebentätigkeiten: Urbanioks private Praxis liegt an derselben Adresse wie der PPD und das Amt für Justizvollzug. «Mehr noch», schreibt Handel, «privatwirtschaftliche Aufträge nimmt laut Gutachtenreglement das Sekretariat des PPD entgegen.»

Das Amt für Justizvollzug bestätigt das auf Anfrage, fügt aber hinzu, dass Urbaniok für die Kosten aufkommen müsse. 

Unklar scheint auch das Verhältnis der kantonalen Behörden zur Profecta AG: «Die Identifizierung des Amts für Justizvollzug mit der Profecta AG geht zwischenzeitlich soweit, dass Fragen an die Firma durch das Amt beantwortet werden», schreibt Handel in seinem Bericht, «darauf angesprochen teilte das Amt mit, ‹die juristische Abklärung dieser Frage hat ergeben, dass wir hier eine klare Trennlinie ziehen sollten›.» Das sei eine Kommunikationspanne gewesen, sagt die Sprecherin des Amts dazu, die Trennung sei schon immer vorhanden gewesen. 

Im Bericht formuliert Handel zwei weitere schwere Vorwürfe an Urbaniok. Dabei geht es auch um seine Haupttätigkeit als Chef des Psychiatrisch-Psychologischen Diensts: Die Profecta AG werde «seit Jahren von der Pharmaindustrie gesponsert», namentlich von den Firmen Janssen, Astra Zeneca, Sandoz, Bristol-Myers Squibb und Lilly. «Insbesondere Janssen wirbt in Prospekten der Profecta AG für Medikamente, welche Arzt Urbaniok im PPD selbst verschreibt», heisst es weiter.

Urbaniok weist diesen Vorwurf gegenüber der WOZ als «absurd» zurück, die erwähnte Werbung von Janssen sei in einer Broschüre zu einer internationalen Forensiktagung erschienen, die von der Profecta AG organisiert wurde. Auf die Medikamentenabgabe innerhalb der angeordneten Therapien habe die Pharmaindustrie absolut keinen Einfluss, man halte sich beim PPD selbstverständlich strikt an die entsprechenden Richtlinien. 

Seriös recherchiert

Wohl am schwersten wiegt der Vorwurf der Zwangsmedikation: «Urbanioks deliktorientierte Therapie basiert nicht auf Freiwilligkeit. Verweigern Delinquenten die deliktorientierte Therapie, droht man ihnen unverhohlen – wohlverstanden, ohne eine rechtliche Grundlage zu nennen – mit Zwangsmedikation.» Handel bezieht sich dabei auf eine Verfügung der Zürcher Justizdirektion vom September 2011, die einen Haftentlassungsantrag abgelehnt hat. Darin steht der Satz: «Gegebenenfalls könne die Einleitung der Behandlung durch eine geeignete Psychopharmakatherapie, die auch relativ problemlos gegen den Willen des Rekurrenten durchführbar wäre, dazu führen, dass der Rekurrent einer psychotherapeutischen Behandlung offener gegenüberstünde.»

Den Vorwurf, man drohe mit Zwangsmedikation, weist das Amt für Justizvollzug «in aller Entschiedenheit zurück». Das von Handel erwähnte Zitat stamme von einem externen Gutachter. «Auf die Aussagen und Empfehlungen eines externen Gutachters haben wir keinen Einfluss», schreibt das Amt.

Auf die Frage, was ihn zu den Recherchen über die Tätigkeiten von Frank Urbaniok veranlasst habe, sagt Michael Handel, dass «ein totalitäres und korruptes Staatswesen nachhaltig kindlichen Interessen schadet». Unabhängig von dieser eher diffusen Motivation scheint der Bericht über Urbaniok seriös, sorgfältig und transparent recherchiert. 

Der Zürcher Kantonsrat hat gegenüber der WOZ bestätigt, dass die Aufsichtseingabe von Handel eingegangen ist. Die Geschäftsprüfungskommission wird sich in den nächsten Wochen mit den Vorwürfen auseinandersetzen.

Was treibt Handel an?

Wer ist Michael Handel, und was hat ihn zu seinen massiven Vorwürfen an Frank Urbaniok veranlasst?

Auf Anfrage der WOZ schreibt der Thurgauer, er sei alleinerziehender Vater und setze sich seit rund sechs Jahren für Kinderrechte ein, wofür er die Organisation Kinder ohne Rechte gegründet habe. Auf der gleichnamigen Website veröffentlicht Handel selbst verfasste Texte sowie Zeitungs- und Fachartikel zu den Themen Kinder- und Vaterrechte. 

Politisch ist die Organisation schwer einzuordnen, es sind aber klare Ressentiments erkennbar gegenüber Pädophilen, Feministinnen und RichterInnen, die nach Handels Meinung Fehlurteile gefällt haben. Letztes Jahr geriet Handel deswegen in die Schlagzeilen. Er führt auf seiner Website eine «schwarze Liste», auf der Namen und Adressen von RichterInnen und Amtspersonen genannt werden, deren Urteile Handel nicht passten. Zwei Aargauer Richter klagten gegen ihren Eintrag in die Liste, Handel musste ihre Namen entfernen. Eine bereinigte Version ist auf seiner Website nach wie vor abrufbar.