Gerichtspsychiatrie: Elend und Verantwortung der forensischen Psychiatrie
Von den Liberalisierungstendenzen in der Psychiatrie Ende der sechziger Jahre bis zur heutigen Angst, MassnahmenpatientInnen eine gute Prognose auszustellen: Zum Fünfzigjahrjubiläum der Zürcher Gesellschaft für Psychiatrie hält der Psychiater Mario Gmür für die WOZ eine Rückschau und berichtet Ungeheuerliches aus dem Alltag der Gerichtspsychiatrie.
Meine erste Erinnerung an die forensische Psychiatrie reicht zurück in die Jugendzeit. Der Altmeister der Gerichtspsychiatrie, Professor Hans Binder, damals Direktor der Klinik Rheinau, wollte meinen Vater in einem Café in der Stadt Zürich treffen, um Auskünfte über einen Patienten einzuholen, den er begutachtete. Mich beeindruckte es, dass er ihn im so lockeren Rahmen eines Kaffeehauses befragte. Heute scheint mir das wie ein erster Hauch von Sozialpsychiatrie.
Die zweite Begegnung mit der Gerichtspsychiatrie hatte ich am Ende meines Medizinstudiums. Ich absolvierte das Staatsexamen in Gerichtspsychiatrie und musste ein kurzes Gutachten verfassen. Eine geschlagene Stunde wurde ich mit einer Leiche im Sektionsraum eingeschlossen, um diese zu untersuchen. Es war ein Mann, der sich mit einem Kopfschuss umgebracht hatte. Da mir der Befund schon nach etwa einer Minute klar war, waren die restlichen 59 Minuten von quälender makabrer Langeweile. Den Bericht schrieb ich anschliessend in einem Büroraum, den ich mit dem damals emeritierten, hoch angesehenen und lustigen Professor der Gerichtspsychiatrie teilte, der dort am Nebentisch Akten studierte. Kurze Zeit später nahm er sich das Leben, indem er mit einer Überdosis Barbituraten in winterlicher Kälte in einem Wald den Erfrierungstod wählte. Jahre später würde sein Nachfolger auf dem Lehrstuhl denselben Weg gehen.
Das nächste Kapitel meines forensischen Curriculums folgte kurze Zeit später, als ich nach dem Staatsexamen eine Stelle als Assistenzarzt im Burghölzli antrat, der psychiatrischen Klinik in Zürich. Neben der gewöhnlichen Arbeit mussten alle AssistenzärztInnen drei bis vier Gutachten pro Jahr unter der Aufsicht des Oberarztes anfertigen. Zudem hatten wir auf der Abteilung für Forensik unter Anleitung des Forensikoberarztes drei Monate lang ausschliesslich Gutachten zu schreiben. So erlangte man damals den Titel der FMH, der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte: Man verfasste zehn bis fünfzehn dieser Gutachten.
Dabei war die Gutachtertätigkeit unter uns AssistenzärztInnen sehr unbeliebt und schlecht angesehen. Wer sich für das Schreiben von Gutachten interessierte, galt als unbegabter Therapeut, der sich lieber dem Urteilen und Verurteilen verschrieb statt dem Verstehen und Heilen. Andererseits waren es gerade die sprachlich gewandten ÄrztInnen, die sich für das Verfassen von Gutachten eigneten und die deshalb auch eher zu OberärztInnen befördert wurden. Die besten Beispiele dafür sind Chefs und Oberärzte wie Eugen Bleuler, Klaus Ernst, Hans Kind, Emanuel Hurwitz, Berthold Rothschild oder Ambros Uchtenhagen – sie waren zwar eher therapeutisch engagiert, hatten aber die hohe Gabe, konzise Gutachten aus dem Ärmel zu schütteln. Bei uns AssistenzärztInnen hingegen war das Verfassen eines Gutachtens oft eine Zangengeburt.
Die meisten PsychiaterInnen verabschiedeten sich nach der Ausbildung von der Gutachtertätigkeit. Einige wenige beamtenhafte Seelen gaben das Therapieren völlig auf und verlegten sich auf das Verfassen von Gutachten, die besonders streng und moralisierend ausfielen. Es waren zum Teil regelrechte Beschimpfungsgutachten. Ich erinnere mich an einen übereifrigen Gutachter mit Praxis an der Bahnhofstrasse, der für den zu Begutachtenden die Todesstrafe als angemessene Strafe bezeichnete.
Empathie und Liberalisierung
Ende der sechziger Jahre kamen weltweit Liberalisierungsbestrebungen in der Psychiatrie auf. Und in den siebziger Jahren meldeten sich in der Schweiz auch in der Forensik kritische Stimmen. Es entstand eine Bewegung gegen die Isolationshaft, man protestierte gegen die psychischen Schäden als Folge langer Inhaftierungen. Doch kritische Stimmen wurden obrigkeitlich unterdrückt. So wurde dem Psychiater Berthold Rothschild von der Zürcher Regierung die Leitung einer neuen Gutachterstelle im Psychologischen Institut verweigert, obwohl er ein exzellenter Gutachter war. Die vorgeschobene Begründung: Er habe anlässlich eines folkloristischen Strassentheaters eine Puppe mit Phallus gezeigt und sich durch diesen exhibitionistischen Fehltritt als Gutachter disqualifiziert. Im Geist des paranoid gefärbten Fichenstaates wurde streng darauf geachtet, dass keine psychiatriekritischen Elemente in leitende Stellungen gelangten.
Allerdings gab es auch eine an psychodynamischen Konzepten orientierte, empathische forensische Psychiatrie, wie sie etwa Ronald Furger vertrat, der Chefarzt der Psychiatrischen Poliklinik Winterthur, der auch die Pestalozzi-Jugendstätte Burghof und die Arbeitserziehungsanstalt Uitikon betreute. Die Klassiker der jugendpsychologischen Literatur wurden gründlich gelesen und diskutiert, projektive Testverfahren wie Baum- und Rorschachtest in Intensivkursen gelernt. Es herrschte eine Haltung von Zuversicht und Wohlwollen auch gegenüber Delinquenten und Delinquentinnen – nicht eine Akzeptanz ihren Verbrechen gegenüber, aber eine vorurteilslose Neugier für die biografischen und psychosozialen Gründe und Hintergründe des Delikts: verstehen statt strafen. Pessimismus war gewissermassen verboten. Defizite in der Persönlichkeit der PatientInnen wurden durch Zuwendung und Klärung innerer Konflikte zu beheben versucht. Konfrontative Interventionen erfolgten in dafür geeigneten Beziehungsmomenten. Die Gefahr eines naiven Optimismus wurde durch diese eher permissive und wohlwollende Haltung in Kauf genommen. Andererseits wurden Entwicklungschancen weniger abgewürgt und eine Verhärtung der delinquenten Persönlichkeit eher vermieden als bei den harten psychotherapeutischen Praktiken, die heute en vogue sind.
Psychiatrie mit totalitären Zügen
Die grosse Wende kam Anfang der neunziger Jahre. Es handelte sich um eine eigentliche Kulturrevolution. Psychoanalyse und Sozialpsychiatrie, die ab den sechziger Jahren Aufbruchstimmung geschaffen hatten, wurden in die Ecke gedrängt. An ihre Stelle traten kognitive und behavioristische Methoden, statistische Untersuchungen und Hirnpsychologie und gaben fortan den Ton an. Es erfolgte eine Reneurologisierung der Psychiatrie. «Messen» und «zählen» waren die neuen Zauberwörter. Psychoanalytische Ausbildungen und Literatur gingen zurück. Wer an einer Universität habilitieren wollte, achtete darauf, dass er entweder eine somatische Arbeit (Lebererkrankungen bei Alkoholismus) oder statistische Untersuchungen (Erfolgsmessungen) einreichte.
Diese Veränderung schlug sich etwas später auch auf die Gutachten nieder. Nach dem «Mord am Zollikerberg» im Jahr 1993, als der sich im Hafturlaub befindliche Erich Hauert die zwanzigjährige Pfadiführerin Pasquale Brumann tötete, folgte ein Umbau der forensischen Psychiatrie, die immer mehr totalitäre Züge annahm. Man kann auch von einer Säuberungsaktion reden, von der auch ich betroffen war: Alle frei praktizierenden GutachterInnen mussten – als wären sie AnfängerInnen – eine Reihe von Gutachten einem Leiter eines forensischen Instituts zur Bewertung unterbreiten und somit die Gutachten nach dessen Vorstellungen verfassen. Bald gründeten die institutionellen GerichtspsychiaterInnen eine schweizerische Gesellschaft für forensische Psychiatrie und erteilten sich gleich selber eine Lizenz, die sie den frei praktizierenden PsychiaterInnen verweigerten. Die Gutachten waren fortan weitgehend nach einem Muster zu erstellen und zu formulieren, das in der Schweiz von Professor Volker Dittmann und Professor Frank Urbaniok entwickelt wurde. Die Diagnosen wurden nach den Codifizierungssystemen ICD 10 und DSM IV gestellt, die nach Auffassung vieler kritischer PsychiaterInnen die Krankheiten und Persönlichkeiten nur mangelhaft erfassen und vor allem für statistische und Forschungszwecke und weniger für klinische Fälle geeignet sind. Ein Hauptakzent wurde auf die Beurteilung der Prognose aufgrund von statistisch ausgewerteten, teilweise recht zweifelhaften Prognoseinstrumenten gelegt. Die klinische und psychodynamische Beurteilung wurde einer Analyse der Häufigkeit von Merkmalen wie Geschlecht, Schulerfolg, Zivilstand geopfert. Der Patient wurde zu einem Gefangenen seines prognostischen Statistikbefunds.
Die Zollikerberg-Affäre und die immer wiederkehrende Thematisierung von spektakulären Straftaten oder Fehlleistungen in der Justiz durch eine sensationsgierige, moralinversprühende Medienöffentlichkeit haben zu einem paranoid gefärbten Angstklima geführt, in dem die Justiz die Verantwortung für Rückfalldelinquenz mit Vorliebe der Psychiatrie zuweist. Das führte zu einer ständigen Zuständigkeitserweiterung der Gerichtspsychiatrie. Heute beurteilt sie nicht nur klinisch bedeutsame Fälle wie bei den Diagnosen Schizophrenie und Drogensucht oder schweren Neurosen, sondern auch gewöhnliche Fälle, wo dann meist eine «dissoziale Störung» und eine «emotional labile Persönlichkeitsstörung» festgestellt werden – eine Diagnose, die man bei jedem herumschreienden Fussballer oder ausfälligen Politiker stellen könnte.
Die gefährliche Macht der Forensik
Die Gerichte ordnen wegen dieser extensiven Diagnostik der Psychiatrie vermehrt eine sogenannte kleine Verwahrung statt einer gewöhnlichen Strafe an. So hängt das Ende des Freiheitsentzugs von der Beurteilung der Psychiatrie ab. Und weil diese besonders empfindlich auf Kritik bei Fehlbeurteilungen reagiert, hütet sie sich davor, eine gute Prognose zu stellen. Folglich ist der Freiheitsentzug oft wesentlich länger als die «verdiente» Strafe. Wenn man den Rechtsstaat definiert als ein Land, das gerechte, dem Delikt angemessene Strafen verhängt, dann muss man sagen, dass die Psychiatrie ihn hier aushebelt.
Das Versagen der heutigen Psychiatrie ist daran zu erkennen, dass sie bei der Durchführung der Behandlung von medizin- und psychiatrieethischen Grundsätzen abweicht:
Erstens setzt sie die MassnahmenpatientInnen unter Druck, indem sie von ihnen verlangt, das Arztgeheimnis preiszugeben – andernfalls werde die Therapie verweigert. Das kommt einer Nötigung gleich, weil mit der Ablehnung der Therapie eine Strafverschärfung droht, etwa durch Versetzung in die Verwahrung.
Das gilt, zweitens, auch für die Erwartung, der Patient, die Patientin müsse sich in der Therapie öffnen: Tun sie das nicht, droht ihnen ein schlechter Verlaufsbericht. Dadurch wird das im Strafverfahren garantierte Recht, Aussagen zu verweigern, faktisch aufgehoben.
Drittens stellen die langjährigen Zermürbungstherapien, bei denen Delikte endlos durchgearbeitet werden, eine Form von Gehirnwäsche dar.
Viertens sind Therapien, die das Gefühlsleben bearbeiten, ebenfalls eine Persönlichkeitsverletzung, wenn keine freie TherapeutInnenwahl besteht.
Fünftens ist die Ausbildung der TherapeutInnen oft äusserst einseitig und mangelhaft.
Im ungünstigsten Fall wird also ein unschuldig verurteilter Täter gezwungen, ein falsches Geständnis abzulegen, in der Therapie Vergewaltigungsfantasien oder pädophile Neigungen vorzutäuschen und sich einer Behandlung durch einen ihm unsympathischen Therapeuten zu unterziehen, zu dem er kein Vertrauensverhältnis aufbauen kann.
Kurz: Die heutige Art der therapeutischen Massnahmen ist sittenwidrig und stellt ein trauriges Kapitel der Psychiatrie dar, das früher oder später einmal kritisch aufgearbeitet und verurteilt werden dürfte.
Missgriffe, Überforderungen
Jede Berufsausübung – insbesondere interdisziplinäre – gewährt Einblick in benachbarte Bereiche. Ich habe schon in früheren Jahrzehnten Missstände und empörende Vorkommnisse zur Kenntnis nehmen müssen. Sie sind oft so krass, dass man sie nicht gerne erzählt, da sie unglaubhaft erscheinen könnten. Ausserdem bin ich es von Berufes wegen gewohnt, Diskretion zu üben. Als Arzt meidet man auch so weit wie möglich Kritik an KollegInnen. Andererseits sind opportunistisches Anpassen und Schweigen problematisch und belastend. Ab einer gewissen Lebenserfahrung wirft man gerne einen Teil davon ab und schafft sich damit Erleichterung …
Vor Jahren suchte mich ein Patient wegen eines Eheproblems auf. Er war von bürgerlichem Habitus, hatte eine gute Stelle in einer Gemeinde und war nebenamtlicher Richter in einem Laiengericht. Er vertraute mir an, dass er in jugendlichem Alter ein «schwerer Junge» gewesen sei und wegen Einbrüchen immer wieder eingesessen habe. In dieser Zeit habe er während eines Urlaubs an einem Dorffest einen Polizisten mit einer spöttischen Bemerkung provoziert. Als er wieder im Gefängnis gewesen sei, habe sich einige Zeit später völlig überraschend die Tür seiner Zelle geöffnet. Der besagte Polizist sei eingetreten und habe ihm zwei saftige Ohrfeigen verpasst und gesagt: «Pass auf, was du sagst!» Offensichtlich hatte ein Angestellter der Strafanstalt diesem Überraschungsgast den Zugang ermöglicht. Der Häftling habe daraufhin eine Beschwerde an den Anstaltsdirektor geschrieben mit der Bitte, diese an den zuständigen Regierungsrat weiterzuleiten. Nach recht langer Zeit sei er vom Direktor ins Büro bestellt worden, wo dieser ihn vor die Wahl gestellt habe: entweder auf der Weiterleitung der Beschwerde zu bestehen (was ihm eine Arreststrafe in der Dunkelzelle wegen Beleidigung des Polizisten eingebracht hätte) oder aber die Beschwerde zurückzuziehen. Der Häftling gab resigniert nach.
Ein anderer viele Jahre zurückliegender Vorfall schien mir ebenfalls glaubhaft, da der Patient, den ich zu begutachten hatte, diesen nur beiläufig andeutete und mir nur auf mein Nachhaken erzählte. Er habe sich spätabends mit einem Drogendealer auf einem Parkplatz verabredet und sei bei der Begegnung von der Polizei in flagranti verhaftet worden. Nachdem er auf dem Polizeiposten verhört worden war, habe er in einer Haftzelle warten müssen. Da öffnete sich plötzlich die Tür, und ein Wärter richtete eine Pistole auf ihn und sagte: «Wenn du meinem Sohn Drogen verkaufst, erschiesse ich dich!» Er sei noch in der Nacht entlassen worden und habe wegen dieses üblen Scherzes nie Anzeige erstattet.
Heute kommen solche plumpen Missgriffe wohl kaum mehr vor. Die Inhaftierten, vor allem auch MassnahmenpatientInnen, erleben aber nach meiner Erfahrung das therapeutische Personal oft als schikanös, zum Teil als unreif, instabil und überfordert und die Therapien als unergiebig. Viele Angestellte können sich mit der Art der therapeutischen Massnahme nicht identifizieren, sind aber auf ihre Stelle angewiesen und bewahren über ihre Beobachtungen Stillschweigen. Bemerkenswert ist allerdings, dass wiederholt höhere Funktionäre der Justiz kurz nach ihrer Pensionierung ihr Missfallen über die Verhältnisse zum Ausdruck brachten. Aber im aktuellen politischen Klima holt kaum jemand Lorbeeren, wenn er für den Rechtsstaat auf die Barrikaden steigt.
Sadisten, Edeldirnen
Neben Unerfreulichkeiten gibt es auch handfeste Skandale. Ein aktueller Fall, der mich besonders beschäftigt, betrifft eine leitende Persönlichkeit im Massnahmenvollzug. Seit Jahren zirkuliert in einer Haftanstalt das Gerücht eines Missbrauchs von einem Häftling durch diesen Psychologen in leitender Position. Die beiden sollen sich bei einem zufälligen Blickkontakt in den Räumen der Anstalt wiedererkannt haben. Der Häftling war sich sicher, dass der Mann als Freier in einer Stadt in Deutschland seine Dienste beansprucht hatte, wo er über Jahre als Stricher unterwegs gewesen war. Dabei habe dieser ihn durch einen nicht vereinbarten, ungewöhnlich brutalen sadistischen Übergriff in Angst und Schrecken, gar in Todesangst versetzt. Von anderen Häftlingen erfuhr er, dass dieser früher in einer Massnahmenvollzugsanstalt jener Gegend als Psychologe gearbeitet habe. Der redselige Häftling wurde wegen persönlichkeitsverletzender Aussagen vom Psychologen angezeigt und zu einer Zusatzstrafe verurteilt. Sein Anwalt beauftragte einen Psychiater mit einem Untersuchungsgespräch, um die Zumutbarkeit einer Therapie in der Anstalt unter der Regie des Psychologen abzuklären. Der Häftling beschrieb diesem detailliert die damaligen Verhältnisse der Wohnung des Psychologen, bei dem er als Stricher empfangen worden war. Nachdem die damalige Wohnadresse ausfindig gemacht werden konnte, erfolgte eine Überprüfung vor Ort. Und die Erinnerungen an die überaus besonderen Merkmale erwiesen sich als zutreffend.
Es spricht also einiges dafür, dass die Massnahmenpatienten seit Jahren von einem überaus sadistisch veranlagten Psychologen in höchst verantwortlicher Position betreut und beurteilt werden.
Eine andere problematische Begebenheit wurde mir von einem Anwalt zugetragen: Seine Klientin, eine Edeldirne, suchte ihn am Tag nach der Urteilsverkündigung in der Kanzlei auf. Er äusserte ihr gegenüber sein basses Erstaunen über das aussergewöhnlich milde Urteil. Sie präsentierte ihm des Rätsels Lösung, nämlich dass sie mit dem Vorsitzenden der Verhandlung einige Tage zuvor «in der Pfanne» gewesen sei. Solche Missstände werden meistens auch in einem demokratischen Rechtsstaat nicht moniert, weil jedes Teilkollektiv, private oder öffentliche Einrichtungen und Gemeinschaften, wie eine kleine Diktatur funktioniert, wo Angst und Paranoia, Unterordnung und Anpassung herrschen. Das gilt auch für die Medien, die sich feige und opportunistisch dem Populismus verschreiben.
Nachdem ich meine Pflichtgutachten während der Ausbildung verfasst hatte, schrieb ich als Oberarzt im sozialpsychiatrischen Dienst in den achtziger Jahren weiterhin Gutachten und supervisierte auch jene der AssistenzärztInnen. Eine Anfrage, ob ich mich für die Leitung der Forensik in der Psychiatrischen Universitätsklinik Basel mit Aussicht auf eine Professur bewerben würde, wies ich wegen des im psychotherapeutischen Milieu eher zweifelhaften Ruhms dieses Gebiets ab. Und als ich eine Praxis in Zürich eröffnete, bewarb ich mich aus dem gleichen Grund auch nicht um die nebenamtliche Tätigkeit als Bezirksadjunkt. Später nahm ich aber doch Gutachteraufträge an, was mir Genugtuung brachte, weil ich so einen Ausgleich zur psychotherapeutischen Tätigkeit hatte. Auch war die interdisziplinäre Tätigkeit mit Einblick in schwer zugängliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens attraktiv. Ausserdem befriedigte die Arbeit auch meine kriminalistischen Interessen.
Hundert Seiten unlesbarer Stil
Es taten sich auch Konfliktfelder mit KollegInnen auf, die unsere Kollegialität nachhaltig belasteten. Solche Konflikte entstanden schon vor der «Kulturrevolution», weil ich schon damals KollegInnen hatte, die nach meinem Empfinden widerwärtige Gutachten schrieben. Jahrelang lag die Leitung der forensischen Psychiatrie in den Händen eines Psychiaters, der die Patienten und Patientinnen in süffisant-herablassendem Ton befragte, zum Teil über hundert Seiten lange Berichte verfasste, in einem unlesbaren Stil schrieb und letztlich meist vernichtende Kritik an den Begutachteten übte. Andere KollegInnen schrieben Hunderte von Gutachten in hektisch hingeworfenen, flüchtigen Formulierungen, oft nach sehr oberflächlichen Untersuchungen und ohne Umgebungsabklärungen. Ich schämte mich meiner Zunft.
Vielleicht ist meine Rückschau von einem allzu negativen Ton geprägt. Vielleicht müsste man gewisse Missstände geduldig ertragen wie rheumatische Beschwerden im Alter. Aber in so sensiblen Bereichen wie der Gerichtspsychiatrie, der Medizin oder dem Recht wird über höchste Lebensgüter entschieden. Entsprechend hoch müssen die Ansprüche an die Qualität sein.
Mario Gmür
Der Psychiater Mario Gmür (71), Autor verschiedener Bücher, hatte als erfahrener Psychotherapeut und Gutachter tiefe Einblicke in das Zürcher Justizsystem. Er gehört zu den wenigen beständigen KritikerInnen der forensischen Psychiatrie, wie sie ab den neunziger Jahren unter Frank Urbaniok, dem Chefarzt des Psychiatrisch-psychologischen Dienstes Zürich, Einzug gehalten hat.
Mario Gmür lebt und arbeitet in Zürich. Zuletzt erschien sein Erzählband «Meine Mutter weinte, als Stalin starb» im Salis-Verlag.