Fumoir: Ade, Langeweile
Ruedi Widmer über produktive Spaziergänge.
Wie schön war sie doch, als man Kind war, die Langeweile an verregneten Mittwochnachmittagen. Auf der Langeweile gediehen die neuen Ideen. Eine leere Fläche im Hirn, bereit zur Bebauung.
In meiner Jugend war auf den Bus warten wirklich «warten». Dasitzen, das Jetzt beobachten, nachdenken. Irgendwann begann ich, einen portablen CD-Player im Mantel mitzuführen, und hörte mir auf dem Arbeitsweg in meine Lehrfirma eine CD an. Pro Tag stand mir ein Album zur Verfügung. Ich hörte die Musik sehr genau. Es waren oft Alben von damals angesagten Drum-’n’-Bass- und Downbeat-Acts, von instrumentaler elektronischer Musik. Es war der Moment, als ich von Gitarrengeschrummel und offensichtlichem Weltschmerz genug hatte und fand, instrumentale Musik sei viel universeller. CDs dieser Zeit rufen bei mir beim Anhören noch heute erstaunlich genaue Bilder von gewissen Tagen ab, von langen nächtlichen Nach-Hause-Spaziergängen (ich wohnte damals auf dem stadtnahen Land), von aus dem Nebel auftauchenden Strassenlampenlichtkegeln, von verschneiten Äckern, von Betonunterführungen, alleine vor sich hin leuchtenden Migrol-Tankstellen (noch ohne 24-Stunden-Shops), von windigen Bushaltestellen.
Der Thurgauer Willi Oertig malt solche banal schönen Dinge der schweizerischen Alltagswirklichkeit. Schleusen, Stromleitungen, Bahnhofperrons. Diese unbelebten trostlosen Orte rufen bei mir grosse romantische Gefühle auf. Ich finde, Oertig schaut durch meine Augen. Seine Bilder berühren mich. Ich werde diese Woche noch in die Kartause Ittingen fahren, wo die erste grosse Gesamtschau des 65-jährigen Malers stattfindet.
Aus Zeitgründen werde ich hinfahren. Eigentlich würde ich am liebsten den ganzen Weg nach Winterthur zurück zu Fuss gehen, durch das neblige nächtliche Thurtal, mit der CD «Smokers Delight» von Nightmares On Wax im portablen CD-Player. Wenn die CD durchgelaufen ist, würde ich dann einfach die Ohrhörer drin lassen und weitergehen und gedämpft das entfernte Rauschen der Autobahn vernehmen.
Doch diese Zeiten sind vorbei. Ich habe keine Zeit, stundenlang im Dunkeln zu gehen. Ich habe eine Familie, Kinder und Beruf. Ich habe den portablen CD-Player nicht mehr. Ich habe heute 14 000 Songs auf meinem iPod abrufbar (um diese kulturelle Problematik zu verstehen, lohnt sich das neue Buch von Simon Reynolds).
Meine Empfindungen aus dem gerade noch Vor-Informationszeitalter und dem Informationszeitalter verzahnen sich ineinander wie Stadt und Land in den Agglomerationslandschaften, wo Willi Oertig seine Motive findet.
Ähnlich wie die Schweizer Landschaft zugebaut ist und für Neues erst freigeräumt werden muss, sind im Jahr 2012 auch unsere Hirne zugestellt mit Versatzstücken aus dem «Blick am Abend», mit Facebook-Geschwätz, mit schlechten MP3-Popsongs aus klirrenden Handylautsprechern. Die langweiligen Wartezeiten, Baugründe neuer Gedanken, werden genutzt für den ganzen Check-Quatsch: Mail, Twitter, Facebook. Das ist ja alles geil und für meine schöpferische Lust ebenso gut, aber wenn ich dann finde, dass die neben mir wartenden Leute doch lieber nachdenken würden, statt ins «20 minuten» zu starren, muss ich einfach zur Kenntnis nehmen, dass sie es auch ohne Smartphone und Gratiszeitung nicht tun würden.
Willi Oertig, Thurgauer Kunstmuseum, Kartause Ittingen (noch bis 31. März 2013).
Simon Reynolds: «Retromania. Warum Pop nicht von seiner Vergangenheit lassen kann». Ventil, 2012.
Nightmares on Wax: «Smokers Delight». Warp Records, 1995.
Ruedi Widmer ist Cartoonist in Winterthur.