Fumoir: Ein Stein spricht
Ruedi Widmer bückt sich und hört zu.
Jeden Morgen bleibe ich einfach liegen. Der 4. März 2013 ist mir in guter Erinnerung, weil mich ein Kind beim Spielen weggespickt hat. Ich bin so an den Wegrand gelangt, fast in die Wiese. Seither ist es sehr ruhig. Ich habe aber neben mir gute Freunde gefunden. Ausserdem habe ich das erste Mal mit Gräsern zu tun. Sie sind sehr geschwätzig, aber ich liebe das.
Ich wurde 1621 geboren. Meine Mutter war eine Felswand am Vorderrhein im Kanton Graubünden. Ich brach bei einem Gewitterregen zusammen mit vielen Geschwistern ab und stürzte gleich ins Wasser. Es trieb mich durch die Fluten. Auf der Höhe von Trin blieb ich hängen – unter Wasser. Das 17., 18. und 19. Jahrhundert hindurch war ich festgeklemmt zwischen einer Kiesbank und einem grösseren Stein.
Es war die dunkelste Zeit in meinem Leben, ich habe praktisch nur geschlafen. Manchmal kam eine Forelle in meine Nähe, aber da ich gegen unten gedrückt wurde, konnte ich nicht mit ihr kommunizieren. Ich wäre ihr wohl auch nicht aufgefallen, ich war ja nur einer von Tausenden.
1899 wurde in der Nähe eine Eisenbahnbrücke über den Rhein gebaut, und ich wurde aus dem Fluss gebaggert und gelangte mit einem Lorenwagen in die Nähe von Chur, wo ich längere Zeit auf einem Schutthaufen lag. Ich hatte grosses Glück. Ich lag auf der Oberfläche des Haufens.
Ein grösserer Kollege von mir hier vom Weg, der wohnte 840 Jahre lang im Boden des benachbarten Ackers. Es hielt ihn dafür jung, er hat dadurch noch Kanten und ist nicht so abgerundet wie ich alter Wasserstein.
1940 wurde ich für einen Feldweg gebraucht, bei Reichenau. Bauern mit Pferden kamen manchmal vorbei. Ab den achtziger Jahren gab es mehr Autos und Traktoren, und immer öfter rollten sie über den Feldweg. Ich wurde geschubst und weggespickt und zügelte bis 1999 etwa vierzigmal auf dem Feldweg hin und her.
Es galt stets, sich mit neuen Steinen anzufreunden. Man wurde ja förmlich in eine bestehende soziale Situation geworfen und war erst mal der Fremde. Aber so erging es manchen Steinchen am Ort. Im Herbst waren wir immer bedeckt mit nassem Laub, im Winter der Schnee – es war eine spannende Zeit.
Im Mai 2002 rollte, wie eigentlich jeden Tag einmal, ein Autopneu über mich hinweg. Bei diesem Pneu gelangte ich jedoch in eine Profilrille, wurde eingeklemmt und mitgenommen. Ich drehte mit unvorstellbarer Geschwindigkeit. Für einen Stein, der in seinem Leben fast 300 Jahre ohne Bewegung geblieben ist, ist ein solches Ereignis einschneidend. Ich wurde schnell bewusstlos. Wie sich Bewusstlosigkeit für einen Stein anfühlt, der ja sonst auch nicht eine Ausgeburt von Leben ist, kann sich ein Mensch nicht vorstellen.
Irgendwann hielt das Auto endlich an, und ich kam wieder zu mir. Ein Mann wusch kurz darauf den Wagen mit Wasser, dabei wurde ich aus dem Profil geschwemmt und blieb auf dem gekiesten Vorplatz liegen. Bald erfuhr ich es von den umliegenden Steinen. Ich befand mich in Herrliberg im Kanton Zürich vor der Villa des baldigen Bundesrats Christoph Blocher. Deshalb bin ich für Journalisten wohl ein so interessanter Stein.
Durch eine Kiesauswechslung bei Blochers gelangte ich 2012 in eine Kiesrecyclingfirma und wurde dort gewaschen und gerieben. Ich erhielt meine aktuelle Form, und mit Millionen von Kollegen wurde ich für einen neuen Spazierweg in Winterthur gebraucht.
Abends schlafe ich ganz normal ein und träume viel. Schauen Sie an den Wegrand, wenn Sie vorbeikommen. Ich bin der hellgraue, runde.
Ruedi Widmer ist Cartoonist in Winterthur.