Griechenland: Jetzt helfen nur noch Geschenke

Nr. 47 –

Die Spardiktate haben Griechenland noch tiefer in die Krise getrieben. Das sieht nun sogar der Internationale Währungsfonds ein – doch Deutschland sträubt sich gegen einen Kurswechsel.

Christine Lagarde legte als Erste die Karten auf den Tisch. Griechenland brauche einen zweiten Schuldenschnitt, forderte die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF). Nach dem ersten «haircut» für die Banken vor einem Jahr sollten diesmal die staatlichen Gläubiger – sprich: die Steuerzahlenden – in die Tasche greifen, forderte Lagarde. Das war Mitte Oktober bei der IWF-Jahrestagung in Tokio.

Schon damals war klar, dass Athen aus eigener Kraft nicht auf die Beine kommen würde. Denn die Schuldenquote bewegt sich rasch auf die 200-Prozent-Marke zu. Sie ist damit weiter denn je von den 120 Prozent der Wirtschaftsleistung entfernt, die Lagarde gerade noch für tragfähig hält. Vor drei Jahren, bei Beginn der Griechenlandkrise, lag sie ziemlich genau bei diesem Wert. Offiziell erlaubt ist in der EU nur die Hälfte: 60 Prozent.

Auch alle anderen wichtigen Indikatoren sind tief im roten Bereich. Im dritten Quartal ist die Konjunktur in Griechenland noch schlimmer eingebrochen als befürchtet, um 7,2 Prozent. Die Arbeitslosigkeit klettert von Rekord zu Rekord, das Gesundheitswesen steht vor dem Zusammenbruch. Weil die Krankenhäuser nicht mehr zahlen können, stellte der deutsche Pharmakonzern Merck die Lieferung eines wichtigen Krebsmedikaments ein.

Dass das Land bis 2020 in der Lage sein wird, seine Schulden auf 120 Prozent zu drücken, glaubt in Brüssel niemand mehr. Eurogruppenchef Jean-Claude Juncker räumte ein, dies sei wohl erst 2022 zu schaffen. Schliesslich würden auch die Sparvorgaben um zwei Jahre gestreckt, so Junckers Begründung. Doch selbst diese Schätzung ist optimistisch – bisher mussten alle Prognosen korrigiert werden.

Bittere Wahrheit

Ob ganz offen per Schuldenschnitt oder verschämt durch die Hintertür: So oder so werden die Gläubiger auf Milliardenforderungen verzichten müssen, wenn sie die drohende Pleite verhindern wollen. Dies wäre ein Bruch in der Geschichte der «Eurorettung». Denn bisher gaben alle Beteiligten immer vor, ohne Abschreibungen und Transferzahlungen auszukommen. Stets war nur von rückzahlbaren Krediten die Rede – und nie von Verlusten oder Geschenken.

Die Gläubigerstaaten, allen voran Deutschland, tun sich denn auch schwer mit der bitteren Wahrheit. Angesichts der Bundestagswahl im Herbst 2013 wagt es Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) nicht, den Tatsachen ins Auge zu schauen. Eigentlich müsste er, der Erfinder des ersten Schuldenschnitts, als Erster der IWF-Diagnose zustimmen. Schliesslich ist die Wirkung des ersten Schnitts schon wieder verpufft, der griechische Schuldenberg wächst weiter.

Doch ein neuer «haircut» würde die deutschen SteuerzahlerInnen rund 17,5 Milliarden Euro kosten, und das will der CDU-Politiker seinen WählerInnen offenbar nicht zumuten. Schliesslich war Schäuble vor drei Jahren, bei Beginn der Griechenlandkrise, mit dem Versprechen angetreten, niemals einer «Transferunion» zuzustimmen. Auch ein «bailout», also eine Übernahme der griechischen Schulden, war Ende 2009 völlig undenkbar.

Als die griechische Misere offenbar wurde, ignorierte sie die schwarz-gelbe Bundesregierung erst einmal monatelang, um die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen abzuwarten. Erst danach stimmte sie Notkrediten zu. Zunächst gab es 45 Milliarden Euro, danach, im zweiten Stützungsprogramm, noch einmal 130 Milliarden.

Doch die Hilfen waren von vornherein falsch konzipiert. Um die WählerInnen in Deutschland zu beruhigen, musste Griechenland für die rückzahlbaren Notkredite zunächst überhöhte Zinsen bezahlen, die die Schuldenlast noch grösser machten. Für jede Hilfszusage bestand Deutschland zudem auf strikter «Konditionalität» – also auf harten Auflagen, die die Finanzlage bessern sollten, in Wahrheit aber vor allem zulasten der Schwächsten gingen und die Krise verschärften.

Drei Kategorien von Grausamkeiten

Gleich drei Kategorien von Grausamkeiten haben sich die ExpertInnen in Berlin, Brüssel (EU), Frankfurt (Europäische Zentralbank, EZB) und Washington (IWF) ausgedacht. Da wären zunächst die klassischen Budgetkürzungen, mit denen der Haushalt saniert werden soll. Dann verfiel man auf neoliberale Strukturreformen, die Staat und Wirtschaft effizienter machen sollen.

Und schliesslich rückte die «Wettbewerbsfähigkeit» Griechenlands in den Blickpunkt. Obwohl das Mittelmeerland nie eine Exportnation war, sollen die Lohnkosten gedrückt und die Ausfuhren angekurbelt werden. Ergebnis: Der Mindestlohn wurde gesenkt, das 13. und das 14. Monatsgehalt im öffentlichen Dienst gestrichen.

Griechenland versuchte eine Zeit lang recht erfolgreich, sich um die aufoktroyierten «Reformen» zu drücken. Mal bremste die konservative Nea Dimokratia, die für die Finanzmisere verantwortlich war und deren Chef Andonis Samaras heute die Regierung leitet. Mal blockierten Generalstreiks, Wahlen und Koalitionsverhandlungen die Umsetzung der Spardiktate.

Doch die Gläubiger schlugen zurück – und verordneten den GriechInnen noch härtere Auflagen. Der letzte, im Frühjahr 2012 aufgelegte Forderungskatalog umfasst nicht weniger als neunzig Massnahmen: von der Entlassung Zehntausender Staatsbediensteter über die Einführung von Praxisgebühren beim Arztbesuch bis hin zur Privatisierung von öffentlichen Betrieben.

Besonders umstritten sind soziale Zumutungen wie die Kürzung der Renten und die Anhebung des Rentenalters. Sogar die Wiedereinführung der Sechstagewoche wollte die Troika aus IWF, EU und EZB durchdrücken – bisher ohne Erfolg. Doch die meisten anderen sozialen Grausamkeiten werden Schritt für Schritt exekutiert. Damit die gewissenhafte Umsetzung geprüft werden kann, sollen die griechischen Behörden sogar Listen mit den Namen der zu entlassenden MitarbeiterInnen vorlegen.

Eine Liste mit Steuerflüchtlingen hingegen wird von der Regierung in Athen bis heute unter Verschluss gehalten und wurde nur von einem mutigen Journalisten veröffentlicht. Die dort aufgeführten wohlhabenden GriechInnen wurden bisher nicht behelligt. Während die Eurogruppe immer wieder auf soziale Einschnitte dringt und zusätzliche Sparmassnahmen etwa im Gesundheitswesen fordert, drückte sie bei der Oberschicht und bei der Kapitalflucht in Länder wie die Schweiz lange die Augen zu.

Verlorenes Vertrauen

Diese einseitige Ausrichtung hatte fatale Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft. Zum einen unterwanderte sie das Vertrauen in die Politik und in die EU. Vor einem Jahr machten sogar Gerüchte über einen angeblich bevorstehenden Militärputsch die Runde. Zum anderen haben die Spar- und Reformdiktate zum schlimmsten wirtschaftlichen Abstieg eines westlichen Landes seit dem Zweiten Weltkrieg geführt.

Seit dem Beginn der Krise ist die Wirtschaftsleistung in Griechenland um fast ein Fünftel geschrumpft. Der IWF hatte nur 7,5 Prozent erwartet. Der Absturz fällt wesentlich härter aus. Doch die «Retter» setzen ihren fatalen Kurs unbeirrt fort. Der Haushalt 2013 sieht erneut Kürzungen von 95 Milliarden Euro vor, also fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Davon sollen 4,5 Milliarden bei den Renten gespart werden.

Doch es gibt auch einen Hoffnungsschimmer. Zum ersten Mal seit Jahren verzeichnet das griechische Finanzministerium wieder einen Überschuss, wenn man den Schuldendienst beiseite lässt. Die Einnahmen liegen also wieder höher als die Ausgaben. Wenn das so weitergeht, kann das Land wenigstens die laufenden Ausgaben bald wieder selbst bezahlen; weitere Einschnitte wären zumindest aus Sicht des unmittelbaren Finanzhaushalts nicht nötig.

IWF versus EU

Ausserdem ist eine Diskussion um den Sinn des Sparkurses in Gang gekommen. Denn die Folgen für die Realwirtschaft sind wesentlich schlimmer als angenommen. Bisher waren die IWF-ÖkonomInnen davon ausgegangen, dass eine Budgetkürzung um 1 Prozent der Wirtschaftsleistung das Wachstum in Griechenland um 0,5 Prozent verringern würde. Tatsächlich seien es aber 0,9 bis 1,7 Prozent, stellte der IWF jetzt in einer Prognose fest.

Die Rezession wird durch die umstrittene Austeritätspolitik also derart verstärkt, dass der Spareffekt zunichte gemacht wird. Schlimmer noch: Je mehr die Regierung in Athen spart, desto grösser wird das Haushaltsloch, denn die Steuereinnahmen brechen weg.

Zwar hat die EU-Kommission diese Zahlen angezweifelt. Aber in Fachkreisen hat längst eine Debatte über eine Neuausrichtung der Griechenlandhilfen begonnen. Der einst als «alternativlos» gepriesene Kurs wird mittlerweile selbst von renommierten Forschungsinstituten wie dem Brüsseler Thinktank Bruegel infrage gestellt.

Neben dem vom IWF empfohlenen Schuldenschnitt sei eine Senkung der Zinsen nötig, die Athen auf die Hilfskredite zahlt, sagt der Bruegel-Forscher Zsolt Darvas. Er empfiehlt einen Nullzins und eine Verlängerung der Laufzeiten.

Doch davon will man in Brüssel und Berlin nichts wissen. Schäuble will den Sparkurs in Griechenland nicht etwa lockern, sondern sogar noch verstärken und zusätzliche Kontrollmechanismen einführen. Auch von einem Nullzins auf die Hilfskredite ist keine Rede, höchstens von einer Senkung der Zinsen. Erwogen wird zudem, sich weiter durchzuwursteln und nur die Mehrkosten für die nächsten beiden Jahre zu decken. Die dafür fälligen 13,5 Milliarden Euro kann man nämlich zur Not auch durch Rechentricks auftreiben, der ungeliebte Schuldenschnitt wäre zunächst nicht nötig.

Für Schäuble hätte dies den Vorteil, dass er vor der Bundestagswahl keinen Offenbarungseid leisten und erneut in die Tasche greifen müsste. Bei einer Krisensitzung der Eurogruppe am Dienstagabend in Brüssel spielte Deutschland daher auf Zeit.

Doch früher oder später wird die Rechnung präsentiert – und dann wird sich zeigen, ob der Klub der Euroretter zusammenhält. Bis dahin muss Griechenland weiter um jede Hilfszahlung bangen und den Gürtel noch enger schnallen. Das Zittern geht also weiter, für die GriechInnen wie für ihre ratlosen Retter.

Die Proteste gehen weiter

Der Generalstreik in Spanien und Portugal hatte am Mittwoch vergangener Woche den öffentlichen Verkehr in den beiden Ländern praktisch lahmgelegt, in Griechenland, Italien, Frankreich und Belgien waren Zehntausende auf die Strassen gegangen. Seither reissen die Proteste gegen das Spardiktat in der Europäischen Union nicht ab. Am letzten Sonntag hat es in Spanien erneut Massendemonstrationen gegeben, diesmal gegen Kürzungen im Gesundheitswesen.

In Griechenland sind derzeit 230 Rathäuser besetzt, die Angestellten der Kommunalverwaltungen legten am Dienstag die Arbeit nieder. Die griechischen LastwagenfahrerInnen drohen mit einem unbefristeten Streik.