Kommentar von Yves Wegelin: Sparpolitik oder Grexit? Eine Wahl wie zwischen Pest und Cholera

Nr. 26 –

Die bisherige Krisenpolitik der Eurostaaten und des Internationalen Währungsfonds hat Griechenland in eine tiefe Rezession manövriert. Für Athen gibt es nur einen Ausweg.

Schaffen es die griechische Regierung von Alexis Tsipras und die Eurostaaten, einen Deal über die Auszahlung eines weiteren Hilfskredits zu schliessen, der von den nationalen Parlamenten abgesegnet wird – ja oder nein? Das ist die grosse Frage, die sich alle stellen. Genauso entscheidend ist jedoch die Frage: Was für ein Deal?

Die Eurostaaten sowie der Internationale Währungsfond (IWF) fordern, dass Griechenland den Pfad weiterverfolgt, den es 2010 eingeschlagen hat, als es einen ersten Hilfskredit zugesprochen erhielt. Da es verbreitet ist, den GriechInnen mangelnden Sparwillen vorzuhalten, lohnt sich ein Blick auf die Zahlen: Seit 2010 wurden die Staatsausgaben um 31 Prozent gekürzt; die öffentlichen Stellen wurden um 20 Prozent reduziert; die Pensionen sanken um fast 50, die Löhne um knapp 40 Prozent.

Diese Kürzungen haben das Land in eine Abwärtsspirale getrieben: Die Wirtschaftsleistung (BIP) ist um 25 Prozent eingebrochen. Damit sind auch die Staatsschulden gestiegen: Zwar liegen diese heute in absoluten Zahlen gemessen mit 317 Milliarden Euro sogar etwas tiefer als 2010. Am BIP gemessen sind sie jedoch von 116 auf 177 Prozent explodiert. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 25 Prozent, unter Jugendlichen gar bei 50 Prozent.

Stellt sich die Frage, ob es für Griechenland nicht vielleicht sogar besser wäre, keinen Deal zu bekommen als einen, der die bisherige Sparpolitik weitertreibt. Erhält Griechenland kein Geld, wird es Anfang nächster Woche – wenn eine Kreditrückzahlung an den IWF ansteht – zahlungsunfähig. Damit käme es zum «Grexit», zum Austritt Griechenlands aus dem Euro: Da immer mehr Geld von den griechischen Banken abfliesst, stellt die griechische Zentralbank – mit Erlaubnis der Europäischen Zentralbank (EZB) – derzeit den Banken im Tausch gegen griechische Staatspapiere Kredite bereit, um ihre Liquidität zu garantieren. Wird Athen jedoch zahlungsunfähig, wird die EZB wohl keine griechischen Anleihen mehr entgegennehmen. Damit müsste Griechenland eine eigene Währung schaffen, um die Banken eigenständig mit Krediten versorgen zu können. Mittelfristig wäre die Regierung sowieso auf eine eigene Währung angewiesen, um ihre Ausgaben zu finanzieren.

Welche Auswirkungen ein Grexit genau hätte, kann niemand prophezeien – dazu ist die Finanzwelt zu komplex. Sicher ist allerdings, dass das Risiko einer europaweiten Finanzkrise weit kleiner wäre als 2010. Erstens wären damals im Fall eines Grexit auch die Zinsen für andere Krisenländer in die Höhe geschossen – heute hält die EZB die Zinsen mit einer expansiven Geldpolitik tief. Zweitens hätte ein Grexit – mit dem auch ein Grossteil der griechischen Staatspapiere faul würde – im Jahr 2010 Banken ins Wanken gebracht, die Anleihen hielten. Heute hingegen liegen die Schuldpapiere bei den Eurostaaten, der EZB und dem IWF. Das bedeutet allerdings gleichzeitig, dass die Eurostaaten beträchtliche Verluste zu tragen hätten.

Für Griechenland jedoch wären die Auswirkungen verheerend. Die neue Währung würde stark an Wert verlieren – die Spekulation könnte sie gar ins Bodenlose treiben. Damit würden die Preise von Importgütern (etwa auch für überlebenswichtige Medikamente) in die Höhe schiessen. Für die Bevölkerung eines Landes, das die Hälfte seiner Lebensmittel importiert, würde dies eine massive Verarmung bedeuten. Zwar würde die billige Währung Exporte und den Tourismus konkurrenzfähiger machen. Allein damit aber wird Griechenland kaum aus der Krise kommen; ausser Tourismus, der Schifffahrt und Ölprodukten hat es wirtschaftlich kaum etwas zu bieten.

Die Wahl zwischen Sparpolitik und Grexit ist eine Wahl wie zwischen Pest und Cholera. Darüber hinaus gibt es jedoch einen dritten Weg – der Griechenland aus der Krise bringen könnte. Erstens muss Griechenland die Steuerhinterziehung bekämpfen. Eine US-Studie schätzt die entgangenen Steuern für 2009 auf 11 Milliarden Euro. Angesichts des Wirtschaftseinbruchs dürfte der Betrag heute tiefer sein, doch das letztjährige Defizit von 6 Milliarden hätte er locker gedeckt. Insbesondere gibt es in Griechenland auch viele Reiche, die stärker besteuert werden sollten, wie dies auch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker jüngst im «Spiegel» gefordert hat.

Zweitens braucht es einen Schuldenschnitt. Zwar haben die Geldgeber die Rückzahlungsfristen der Schulden gestreckt und die Zinsen gesenkt, sodass Griechenland in den nächsten Jahren eine Zinslast von unter drei Prozent des BIPs zahlen muss. Die horrenden Schulden schränken das Land jedoch darin ein, neue Schulden zu machen. Und genau diese wären – drittens – nötig, um die Sparpolitik zu beenden. Private leihen Griechenland kein Geld; IWF und Eurostaaten verlangen von Athen einen Primärüberschuss (Saldo vor Zinszahlungen) für 2015 von einem Prozent, der bis 2018 auf 3,5 Prozent steigen soll. Ein Irrsinn.

Dass die Eurostaaten und der IWF auf einmal in einen solchen Plan einwilligen, ist kaum zu erwarten. Die Frage ist jedoch, ob es Tsipras’ Regierung gelingt, die Geldgeber zumindest ein Stück weit in diese Richtung zu ziehen. Die letzten Entwicklungen stimmen pessimistisch: Trotz kleiner Erfolge hat die griechische Regierung den Geldgebern weitgehende Zugeständnisse gemacht, indem sie eingewilligt hat, die Mehrwertsteuer zu erhöhen und die Renten weiter zu senken.

Angesichts der Alternative, dem Grexit, bleibt Tsipras’ Regierung jedoch nichts anderes übrig, als sich hartnäckig für den dritten Weg einzusetzen.