Spanien: Das grosse Ablenkungsmanöver
Am Sonntag wählen die KatalanInnen das neue Regionalparlament. Es geht auch um die Abspaltung der Region von Spanien. Aber ist die von allen BefürworterInnen wirklich ernst gemeint?
«Welchen Wert hat die Demokratie, wenn so viel Dreck aufgewühlt wird, um die Stimme des Volkes zu unterdrücken?» Ein bisschen pathetisch klang das schon, was Artur Mas von sich gab, und übertrieben ist es auch. Aber so ganz unrecht hat der derzeitige und wohl auch künftige katalanische Regierungschef mit seiner Klage nicht: Seit Wochen führen die entschiedensten GegnerInnen der konservativen Regionalpartei Konvergenz und Union (CiU) eine Schmutzkampagne gegen ihn und seinen Vorgänger an der Spitze der CiU.
So behauptete beispielsweise am Wochenende die rechtslastige spanische Tageszeitung «El Mundo», dass sowohl Mas als auch Jordi Pujol – von 1980 bis 2003 katalanischer Regierungschef und ein in spanischen Kreisen respektierter Politiker – über millionenschwere Bankkonten in der Schweiz verfügen würden und tief in eine Korruptionsaffäre um die Stiftung für Barcelonas Musikpalast verstrickt seien. Tatsächlich wurden zwischen 2003 und 2008 in der Stiftung rund 35 Millionen Euro unterschlagen und zur Finanzierung katalanischer Parteien zweckentfremdet, darunter auch die CiU. Dafür, dass Mas und Pujol persönlich in den Skandal verwickelt sind, gibt es bisher allerdings keine Beweise.
Die nationale Frage
Im Wahlkampf haben sich zwei Parteien aufeinander eingeschossen, die sich sozialpolitisch recht nahestehen: die in Barcelona amtierende CiU und die in Madrid regierende rechtskonservative Volkspartei (PP). Denn die KatalanInnen entscheiden diesmal nicht nur über die Zusammensetzung des Regionalparlaments, sondern auch darüber, ob sie eine Loslösung der Region von Spanien befürworten. Eine Schicksalswahl sei dies, argumentiert Artur Mas, der von einer Welle an Unabhängigkeitsbekundungen zu profitieren hofft – am 11. September, dem katalanischen Nationalfeiertag, gingen in Barcelona rund zwei Millionen Menschen auf die Strasse – und deswegen die Wahl vorziehen liess. Das sind neue Töne. Bisher strebte die CiU nie wirklich die Unabhängigkeit Kataloniens an. Für die konservativ-wirtschaftsliberale Partei waren ökonomische Fragen stets wichtiger gewesen. Aber jetzt liebäugelt sie mit der Souveränität – aus durchsichtigen Gründen.
Dass immer mehr KatalanInnen eine Abwendung von Madrid fordern, hat vor allem mit der Finanz- und Wirtschaftskrise zu tun, die mittlerweile auch die viertreichste Region Spaniens erfasst hat. Diese Krise bekomme man nur selbst in den Griff, glauben viele (siehe WOZ Nr. 12/12 ) und verweisen auf die Steuergelder, die aus Katalonien abfliessen. Diese regionalchauvinistische Stimmung hat freilich auch die PP mit entfacht. 2006 hatte sich die katalanische Bevölkerung in einer Volksabstimmung für ein neues Autonomiestatut ausgesprochen, das der Region mehr Rechte gegeben hätte. Das damals sozialdemokratisch dominierte spanische Parlament ratifizierte die Änderungen. Doch dann legte die PP Verfassungsbeschwerde ein, die Reform scheiterte.
Die Partei von Ministerpräsident Mariano Rajoy hält getreu dem Leitspruch ihrer franquistischen Vorfahren an einem «grossen, einheitlichen und katholischen Spanien» fest. Und so fehlt es nicht an Drohungen in Richtung Barcelona: Einem eigenständigen Katalonien würde Spanien nie den Beitritt zur Europäischen Union erlauben, MigrantInnen verlören ihre spanischen Aufenthaltsgenehmigungen, katalanische Schul- und Universitätsabschlüsse hätten keine Gültigkeit mehr. Ein militärischer Einmarsch sei nicht ausgeschlossen. Und sollten nicht alle PolitikerInnen, die sich für die Loslösung Kataloniens aussprechen, wegen Hochverrats vor ein Militärgericht gestellt werden? Das forderte vor kurzem die der PP nahestehende Vereinigung spanischer Soldaten.
Das Säbelrasseln der Konservativen auf beiden Seiten geschieht nicht ohne Absicht: Nicht die sozialen Verhältnisse stehen im Zentrum des Wahlkampfs, sondern die Farbe ihrer jeweiligen Fahnen. Es ist ein gross angelegtes Ablenkungsmanöver. Die CiU-Regierung in Barcelona und die PP-Regierung in Madrid betreiben beide eine Politik des sozialen Kahlschlags. Der einzige Unterschied liegt darin, dass die PP Spanien erst seit vergangenem Dezember regiert, während die CiU-Regionalregierung ihren BürgerInnen schon seit mehr als zwei Jahren Kürzungsprogramme zumutet, die denen von Madrid in nichts nachstehen. So hat Katalonien als erste und bisher einzige Region Spaniens zahlreiche Kliniken geschlossen, in Spitälern massiv Personal und Betten abgebaut, eine Rezeptgebühr eingeführt, die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel verteuert, die Studiengebühren erhöht und zahlreiche LehrerInnenstellen gestrichen.
Abgesehen von der nationalen Frage unterscheiden sich CiU und PP also kaum. Die Volkspartei war im katalanischen Parlament bisher die drittstärkste Kraft.
Disparate Opposition
Doch auch die zweitstärkste Regionalpartei, die katalanisch-sozialdemokratische PSC, bietet keine Alternative. Sie steht als grosse Wahlverliererin bereits fest. Bei den Regionalwahlen 2010 war sie von 37 auf 28 der insgesamt 135 Abgeordnetensitze zurückgestutzt worden, und sie wird noch mehr Mandate verlieren. Als regionaler Ableger der sozialdemokratischen Mutterpartei PSOE spürt sie den Unmut der Bevölkerung über die Politik der früheren Regierung von José Luis Rodríguez Zapatero. Den SozialdemokratInnen haben viele noch nicht verziehen, dass sie die wirtschaftlichen Probleme lange leugneten, nichts gegen die Immobilienkrise unternahmen, als dazu noch Zeit war, und dann nach der Pfeife der FinanzinvestorInnen tanzten. Dazu kommt, dass PSOE und PSC in der Hauptwahlkampffrage gespalten sind: Während die katalanischen SozialdemokratInnen eine weiter reichende Autonomie anstreben, will die Mutterpartei in Madrid von einem bundesstaatlichen Spanien nichts wissen.
Bleiben die Parteien der Unabhängigkeitsbewegung. Die Republikanische Linke Kataloniens (ERC) dürfte von der allgemeinen Unzufriedenheit profitieren und vermutlich viertstärkste Fraktion im katalanischen Parlament bleiben – wohl auch deswegen, weil sie ganz auf die nationale Karte setzt. Fünftstärkste Gruppe wird wohl wieder die links-ökologische Initiative für Katalonien (ICV), die erst seit der gescheiterten Reform des Autonomiestatuts eine Loslösung Kataloniens fordert.
Niemand zweifelt an einem Wahlsieg der CiU. Aber wird die Partei ab nächster Woche die Unabhängigkeit vorantreiben? Das ist höchst unwahrscheinlich. Zum einen werden die katalanischen Unternehmen darauf pochen, dass die CiU nach den Wahlen wieder ihre Interessen vertritt. Und dann ist nicht sicher, dass sich die Bevölkerung bei einem Referendum – sollte es überhaupt so weit kommen – mehrheitlich für die volle Souveränität aussprechen wird. Heute sind zwar 51 Prozent dafür, aber die Stimmung könnte auch wieder kippen. Dann zum Beispiel, wenn Artur Mas zurückrudert und eine Einigung mit Madrid anstrebt.
Schlechte Voraussetzungen
Über Jahrzehnte hinweg gehörte Katalonien (neben Baden-Württemberg, der Lombardei und Rhône-Alpes) zu den wirtschaftsstärksten Regionen der EU. Das hat sich geändert. Mittlerweile liegt die Arbeitslosigkeit bei 25 Prozent, die Ratingagenturen haben die katalanischen Anleihen auf Ramschniveau herabgestuft, rund ein Drittel der 7,5 Millionen EinwohnerInnen lebt in Armut – und der Staat ist so pleite, dass er sich Geld aus Madrid borgen muss. Das sind keine guten Bedingungen für eine Unabhängigkeit.