Ravi Shankar: Unaufhörliche schöpferische Essenz
Ravi Shankar: Unaufhörliche schöpferische Essenz
«Obwohl er vielleicht über hundert Jahre alt wurde, habe ich das Gefühl, solch eine Persönlichkeit müsse ewig leben. Er wird weiterleben durch die strahlende Musik, die er seine Schüler – zum Beispiel Ravi Shankar – lehren konnte.» Diese Zeilen finden sich in einem Artikel, verfasst 1972 anlässlich des Hinschieds von Ustad Allauddin Khan, dem legendären Lehrer von Ravi Shankar. Vergangene Woche ist nun Ravi Shankar selbst, 92-jährig, in einem Spital in San Diego verstorben.
Ein Treffen mit Shankar war mir leider nie vergönnt. Dennoch fühle ich eine starke Beziehung zum Lehrer meines Lehrers Shalil Shankar. Mein persönliches Bild dieser Ausnahmeerscheinung steht auf zwei Pfeilern: musikalischem Werk und künstlerischer Gestaltungskraft sowie seiner ernsthaften und spirituellen Haltung gegenüber der Musik. Beide widerspiegeln in meinen Augen die ganzheitliche Schulung, die er durchlaufen hat. Ravi Shankar hat die Sitar massgeblich modifiziert und im Westen popularisiert. Aber einem Freigeist bläst auch kalter Wind entgegen: «Amerikanisierung» oder «Zerstörer» sind Attribute, mit denen ihn KritikerInnen, mehrheitlich aus Indien, belegten. Könnte das Missgunst ob seines Erfolgs im Westen oder eine Form orthodoxer Enge sein?
Ich halte mich nicht auf damit. Durch viel Exerzieren des Sitarspiels und etliche Gespräche mit meinem Lehrer glaube ich, einen ernsthaften Schüler an vier Qualitäten erkennen zu können: Liebe zur Musik, Entschlossenheit, Fleiss und Geduld. Ravi Shankars Erscheinung war zeit seines Lebens ein leuchtendes Beispiel. Die schöpferische Essenz schien unaufhörlich aus ihm zu quellen und ihren Ausdruck zu finden – bis zuletzt: So gab er vor sechs Wochen sein finales Konzert auf einer Bühne, hingefahren im Rollstuhl, mit Sitar und unterstützt mit zusätzlichem Sauerstoff. Als er zu spielen begann, kehrten laut Anwesenden beeindruckende Vitalität und Magie zurück.
Möge Ravi Shankars Geist noch viele Generationen von KünsterInnen anregen. «Er wird weiterleben durch die strahlende Musik, die er seine Schüler lehren konnte.»
Roger Odermatt arbeitet in der Inserateabteilung der WOZ und ist Sitarschüler von Shalil Shankar, von dem auch das Zitat am Anfang des Texts stammt.