David Bowie (1947–2016) : Ein Major für die Verletzlichen
David Bowie sang nicht aus seinem Leben, er formulierte Ansprüche an dieses Leben. Und stand mit seiner Gesamtperformance für das grosse Versprechen des Pop, ein anderer sein zu können.

Nicht nur Sigmund Freud hätte seine Freude gehabt. Am Morgen des 11. Januar verkündete Fiona Winchester beim Radiosender Heart FM: «David Cameron has died.» Um sich schnell zu korrigieren: «Uhm, David Bowie has died.»
Das Trauerkarussell nimmt Fahrt auf. Passiert ja nicht so oft, dass Cameron und Kamerun derselben Figur nachweinen. «Ich gehöre zu denen, die in der Stimme von David Bowie eine tiefe Verbundenheit zu allen anderen ebenso Verletzten empfanden», schreibt Schorsch Kamerun, Sänger der Goldenen Zitronen, und formuliert eine von Bowies Popqualitäten: Verbundenheit stiften, Projektionsflächen anbieten. Kamerun weiter: «Der einzigartige Klang von schmerzvoller Liebe, Sensibilität und wirklich wertvoller Coolness ist tot.»
Wertlose, hohle Coolness demonstriert sogleich der britische Premier. Wie sein New-Labour-Vorgänger Tony Blair, Baumeister des Luftschlosses namens Cool Britannia, lässt David Cameron keine Gelegenheit aus, sich an Popstars heranzuwanzen und seinen erlesenen Geschmack hinauszutröten, Morrissey und Paul Weller können Lieder davon singen. Im Fall Bowie legt Cameron den Finger in die Wunde: «Er war ein Meister darin, sich neu zu erfinden», twittert der Tory, frisch zurück von einer Open-Air-Rede im Schnee in Wildbad Kreuth, bei den rechten Freunden der CSU. Ja, David Bowie ist schuld. Schuld daran, dass wir uns Tag für Tag neu erfinden müssen. Wer sich nicht alle drei Stunden neu erfindet, der verliert den Anschluss, der ist nicht konkurrenzfähig im neoliberalen Kreativhamsterrad. In den 1970er Jahren war das mit dem Sich-neu-Erfinden noch ein Versprechen auf Freiheit und Glück.
Hinter sich das Kielwasser
Gerade eben war Bowie noch als Major Tom im Weltall verschwunden – «the stars look very different today» –, da kommt er zurück als Ziggy Stardust. Im gleichnamigen Album erzählt Bowie 1972 das Märchen von einem fiktiven Rockstar. Die Welt liegt Ziggy zu Füssen, die ebenso flamboyante wie rätselhafte Figur ist ein Abgesandter von Ausserirdischen. Wie «Space Oddity» endet «The Rise and Fall of Ziggy Stardust» tödlich. Mit dem «Rock ’n’ Roll Suicide» lässt Bowie sein Alter Ego sterben und verkündet bei der finalen Show der Ziggy-Tour das Ende seiner Bühnenkarriere. Es sollte anders kommen.
«Die Ziggymania hatte begonnen, aber das war mehr als nur der Ruhm eines Stars», schrieb der englische Pophistoriker Jon Savage im Katalog zur Bowie-Ausstellung 2013 im Victoria and Albert Museum in London. «Bowie war zum Phänomen geworden – ein Performer, wie es ihn in jeder Generation nur einmal gibt und der die gesamte Kultur in seinem Kielwasser mitzieht. Bowie schritt schneller voran als die Medien, die ihn vereinnahmen wollten.» Und die Politiker, die ihn jetzt vereinnahmen wollen.
Für Jon Savage war Bowie ein «Major Liberator»: «Er machte die Welt so viel einfacher für schwule Männer.» Und für all die Verletzten, von denen Schorsch Kamerun spricht, die Unsicheren, Bedrängten, die nicht wissen, wohin mit ihrem Begehren, deren Mütter nicht sicher sind, «if you’re a boy or a girl», wie es in «Rebel Rebel» heisst, einem von den vielen Referenzsongs, die Bowie aus dem Ärmel schütteln konnte wie kein Zweiter.
Mädchen in Uniform
«Boys Keep Swinging» ist so ein Referenzsong im Glamrockformat, der autobiografische Spuren aufweist, aber – wie immer bei Bowie – das Gegenteil eines bekennenden Von-sich-selbst-Erzählens ist. Bowie singt nicht aus seinem Leben, er formuliert Ansprüche an dieses Leben und öffnet Horizonte eines möglichen Lebens: «Boys Keep Swinging» singt er 1979, eine Einladung in den David-Bowie-Swinger-Fanklub.
Clothes always fit ya
Life is a pop of the cherry
When you’re a boy
When you’re a boy
You can wear a uniform
When you’re a boy
Other boys check you out
You get a girl
Bowies Glamourboy weigert sich, zu jenem Mann zu werden, der in tausend Rock- und Blues- und Countrysongs sein Heterotestosteron herausbrüllt: «I’m a man!» Nein: Wenn du ein Boy bist, dann hast du andere Möglichkeiten. Viel wurde nach seinem Tod geschrieben über Bowie als Rollenmodell, treffender wäre: Projektionsfläche. Die Performance des David Bowie – und das meint alle Facetten seiner künstlerischen Persona: Look, Mode, Filme, Videos, Fotos, Texte, die verschiedenfarbigen Augen, ja auch die Musik – diese Gesamtperformance macht über Jahrzehnte Angebote. Bowie steht für ein grosses Versprechen: Pop ist eine Projektionsfläche, im Pop kann ich ein Anderes sein.
Klar, dass die Uniform aus «Boys Keep Swinging» nicht die des Soldaten ist. Bowie ist eher bei den «Mädchen in Uniform» aus dem gleichnamigen deutschen Spielfilm, der 1931 von der Liebe der Schülerin Manuela zu ihrer Lehrerin erzählt. Oder bei Tilda Swinton, der hinreissendsten der ungezählten Bowie-Lookalikes und -Feelalikes, derselben Tilda Swinton, die 2013 im polymorph-ironisch-selbstreferenziellen Rollenspielvideo «The Stars Are Out Tonight» (schon wieder: Stars) Bowies Konterpart gibt. Dieselbe Tilda Swinton, die 2013 die Bowie-Ausstellung in London – als Stellvertreterin Gottes auf Erden – mit einer feinen Beobachtung eröffnet: Bowie sei «every alien’s favourite cousin», sagt Tilda und paraphrasiert noch so einen Referenzsong: «Loving the Alien».
Spuren und Signaturen
Der Song diente in den späten Neunzigern Leuten wie Kodwo Eshun und Diedrich Diederichsen als Leitmotiv für Popdiskurse um Science-Fiction, Afrofuturismus und Multikultur. So driften und flottieren Bowies Geschöpfe durch die Welt, als gäbe es keine Grenzen zwischen oben und unten, Hi und Lo, Kunst und Alltag … und hinterlassen Spuren und Signaturen. Lang und bunt ist die Liste derjenigen, die ohne Bowie nicht geworden wären, was sie wurden: Madonna und Lady Gaga, Iggy und Lou, Björk und Antony, Marc Almond und Boy George, Gudrun Gut und Tricky, The Associates und Orange Juice, Kraftwerk und Duran Duran, The Smiths und The Go-Betweens, Marylin Manson und Nine Inch Nails, Gary Numan und Human League, Blumfeld und Tocotronic …
Und dann dieser Abgang. «Lazarus». Das letzte Video. Lazarus von Bethanien wurde von den Toten erweckt – durch Jesus Christus, sagt die Bibel. Im Video liegt Bowie auf einem Krankenbett, seine Augen sind verbunden, schmerzverzerrt presst er heraus:
Schau mich an, ich bin im Himmel,
ich habe Narben, die kein Mensch sieht.
Schau mich an, ich bin in Gefahr.
Ich habe nichts mehr zu verlieren.
Oje, wird er auf seine alten Tage noch fromm? Und dieser Gesang? «Eher androgyn als macho, vor allem aber klagend, weich, auch weinerlich, tragisch.» So Diedrich Diederichsen in der «Zeit» über Bowies «enthemmtes Alterswerk» drei Tage vor seinem Tod. Jetzt wissen wir, warum, und können die düsteren Signale rund um sein finales Album deuten. Mit «★» inszeniert Bowie seinen eigenen Tod. Das kann eigentlich nur schiefgehen. Dass es nicht schiefgeht, liegt an einer seiner Stärken, die neben den vielen anderen leicht vergessen wird: Er hatte Humor. Denn es gibt noch einen anderen Bowie in diesem Abschiedsfilm: den auch im Alter noch grazilen David, tänzelnd im Jumpsuit mit Zebrastreifen. Am Ende steigt er in einen dunkelbraunen Holzschrank und zieht die Tür hinter sich zu. Für immer. Zum Heulen, aber auch zum Grinsen.
Das englische Wort für Schrank ist «closet», «to come out of the closet» heisst auch: sich zu seiner Homo- oder Bisexualität bekennen. Jetzt sitzt er im Himmel und amüsiert sich darüber, wie wir uns den Kopf zerbrechen: Was will Bowie uns damit sagen? Warum geht er zurück in den «closet», wo seine Performance doch so vielen Leuten dabei geholfen hatte, rauszukommen aus dem Schrank der heterosexuellen Diktate? Und überhaupt: Schranken zu überwinden. Nicht nur Freud hätte seine Freude gehabt an diesem Abgang.