David Bowie (1947–2016): Ein Major für die Verletzlichen

Nr. 2 –

David Bowie sang nicht aus seinem Leben, er formulierte Ansprüche an dieses Leben. Und stand mit seiner Gesamtperformance für das grosse Versprechen des Pop, ein anderer sein zu können.

David Bowie (aufgenommen 1974). Foto: Chris Walter / WireImage

Nicht nur Sigmund Freud hätte seine Freude gehabt. Am Morgen des 11. Januar verkündete Fiona Winchester beim Radiosender Heart FM: «David Cameron has died.» Um sich schnell zu korrigieren: «Uhm, David Bowie has died.»

Das Trauerkarussell nimmt Fahrt auf. Passiert ja nicht so oft, dass Cameron und Kamerun derselben Figur nachweinen. «Ich gehöre zu denen, die in der Stimme von David Bowie eine tiefe Verbundenheit zu allen anderen ebenso Verletzten empfanden», schreibt Schorsch Kamerun, Sänger der Goldenen Zitronen, und formuliert eine von Bowies Popqualitäten: Verbundenheit stiften, Projektionsflächen anbieten. Kamerun weiter: «Der einzigartige Klang von schmerzvoller Liebe, Sensibilität und wirklich wertvoller Coolness ist tot.»

Wertlose, hohle Coolness demonstriert sogleich der britische Premier. Wie sein New-Labour-Vorgänger Tony Blair, Baumeister des Luftschlosses namens Cool Britannia, lässt David Cameron keine Gelegenheit aus, sich an Popstars heranzuwanzen und seinen erlesenen Geschmack hinauszutröten, Morrissey und Paul Weller können Lieder davon singen. Im Fall Bowie legt Cameron den Finger in die Wunde: «Er war ein Meister darin, sich neu zu erfinden», twittert der Tory, frisch zurück von einer Open-Air-Rede im Schnee in Wildbad Kreuth, bei den rechten Freunden der CSU. Ja, David Bowie ist schuld. Schuld daran, dass wir uns Tag für Tag neu erfinden müssen. Wer sich nicht alle drei Stunden neu erfindet, der verliert den Anschluss, der ist nicht konkurrenzfähig im neoliberalen Kreativhamsterrad. In den 1970er Jahren war das mit dem Sich-neu-Erfinden noch ein Versprechen auf Freiheit und Glück.

Hinter sich das Kielwasser

Gerade eben war Bowie noch als Major Tom im Weltall verschwunden – «the stars look very different today» –, da kommt er zurück als Ziggy Stardust. Im gleichnamigen Album erzählt Bowie 1972 das Märchen von einem fiktiven Rockstar. Die Welt liegt Ziggy zu Füssen, die ebenso flamboyante wie rätselhafte Figur ist ein Abgesandter von Ausserirdischen. Wie «Space Oddity» endet «The Rise and Fall of Ziggy Stardust» tödlich. Mit dem «Rock ’n’ Roll Suicide» lässt Bowie sein Alter Ego sterben und verkündet bei der finalen Show der Ziggy-Tour das Ende seiner Bühnenkarriere. Es sollte anders kommen.

«Die Ziggymania hatte begonnen, aber das war mehr als nur der Ruhm eines Stars», schrieb der englische Pophistoriker Jon Savage im Katalog zur Bowie-Ausstellung 2013 im Victoria and Albert Museum in London. «Bowie war zum Phänomen geworden – ein Performer, wie es ihn in jeder Generation nur einmal gibt und der die gesamte Kultur in seinem Kielwasser mitzieht. Bowie schritt schneller voran als die Medien, die ihn vereinnahmen wollten.» Und die Politiker, die ihn jetzt vereinnahmen wollen.

Für Jon Savage war Bowie ein «Major Liberator»: «Er machte die Welt so viel einfacher für schwule Männer.» Und für all die Verletzten, von denen Schorsch Kamerun spricht, die Unsicheren, Bedrängten, die nicht wissen, wohin mit ihrem Begehren, deren Mütter nicht sicher sind, «if you’re a boy or a girl», wie es in «Rebel Rebel» heisst, einem von den vielen Referenzsongs, die Bowie aus dem Ärmel schütteln konnte wie kein Zweiter.

Mädchen in Uniform

«Boys Keep Swinging» ist so ein Referenzsong im Glamrockformat, der autobiografische Spuren aufweist, aber – wie immer bei Bowie – das Gegenteil eines bekennenden Von-sich-selbst-Erzählens ist. Bowie singt nicht aus seinem Leben, er formuliert Ansprüche an dieses Leben und öffnet Horizonte eines möglichen Lebens: «Boys Keep Swinging» singt er 1979, eine Einladung in den David-Bowie-Swinger-Fanklub.

Clothes always fit ya
Life is a pop of the cherry
When you’re a boy
When you’re a boy
You can wear a uniform
When you’re a boy
Other boys check you out
You get a girl

Bowies Glamourboy weigert sich, zu jenem Mann zu werden, der in tausend Rock- und Blues- und Countrysongs sein Heterotestosteron herausbrüllt: «I’m a man!» Nein: Wenn du ein Boy bist, dann hast du andere Möglichkeiten. Viel wurde nach seinem Tod geschrieben über Bowie als Rollenmodell, treffender wäre: Projektionsfläche. Die Performance des David Bowie – und das meint alle Facetten seiner künstlerischen Persona: Look, Mode, Filme, Videos, Fotos, Texte, die verschiedenfarbigen Augen, ja auch die Musik – diese Gesamtperformance macht über Jahrzehnte Angebote. Bowie steht für ein grosses Versprechen: Pop ist eine Projektionsfläche, im Pop kann ich ein Anderes sein.

Klar, dass die Uniform aus «Boys Keep Swinging» nicht die des Soldaten ist. Bowie ist eher bei den «Mädchen in Uniform» aus dem gleichnamigen deutschen Spielfilm, der 1931 von der Liebe der Schülerin Manuela zu ihrer Lehrerin erzählt. Oder bei Tilda Swinton, der hinreissendsten der ungezählten Bowie-Lookalikes und -Feelalikes, derselben Tilda Swinton, die 2013 im polymorph-ironisch-selbstreferenziellen Rollenspielvideo «The Stars Are Out Tonight» (schon wieder: Stars) Bowies Konterpart gibt. Dieselbe Tilda Swinton, die 2013 die Bowie-Ausstellung in London – als Stellvertreterin Gottes auf Erden – mit einer feinen Beobachtung eröffnet: Bowie sei «every alien’s favourite cousin», sagt Tilda und paraphrasiert noch so einen Referenzsong: «Loving the Alien».

Spuren und Signaturen

Der Song diente in den späten Neunzigern Leuten wie Kodwo Eshun und Diedrich Diederichsen als Leitmotiv für Popdiskurse um Science-Fiction, Afrofuturismus und Multikultur. So driften und flottieren Bowies Geschöpfe durch die Welt, als gäbe es keine Grenzen zwischen oben und unten, Hi und Lo, Kunst und Alltag … und hinterlassen Spuren und Signaturen. Lang und bunt ist die Liste derjenigen, die ohne Bowie nicht geworden wären, was sie wurden: Madonna und Lady Gaga, Iggy und Lou, Björk und Antony, Marc Almond und Boy George, Gudrun Gut und Tricky, The Associates und Orange Juice, Kraftwerk und Duran Duran, The Smiths und The Go-Betweens, Marylin Manson und Nine Inch Nails, Gary Numan und Human League, Blumfeld und Tocotronic …

Und dann dieser Abgang. «Lazarus». Das letzte Video. Lazarus von Bethanien wurde von den Toten erweckt – durch Jesus Christus, sagt die Bibel. Im Video liegt Bowie auf einem Krankenbett, seine Augen sind verbunden, schmerzverzerrt presst er heraus:

Schau mich an, ich bin im Himmel,
ich habe Narben, die kein Mensch sieht.
Schau mich an, ich bin in Gefahr.
Ich habe nichts mehr zu verlieren.

Oje, wird er auf seine alten Tage noch fromm? Und dieser Gesang? «Eher androgyn als macho, vor allem aber klagend, weich, auch weinerlich, tragisch.» So Diedrich Diederichsen in der «Zeit» über Bowies «enthemmtes Alterswerk» drei Tage vor seinem Tod. Jetzt wissen wir, warum, und können die düsteren Signale rund um sein finales Album deuten. Mit «★» inszeniert Bowie seinen eigenen Tod. Das kann eigentlich nur schiefgehen. Dass es nicht schiefgeht, liegt an einer seiner Stärken, die neben den vielen anderen leicht vergessen wird: Er hatte Humor. Denn es gibt noch einen anderen Bowie in diesem Abschiedsfilm: den auch im Alter noch grazilen David, tänzelnd im Jumpsuit mit Zebrastreifen. Am Ende steigt er in einen dunkelbraunen Holzschrank und zieht die Tür hinter sich zu. Für immer. Zum Heulen, aber auch zum Grinsen.

Das englische Wort für Schrank ist «closet», «to come out of the closet» heisst auch: sich zu seiner Homo- oder Bisexualität bekennen. Jetzt sitzt er im Himmel und amüsiert sich darüber, wie wir uns den Kopf zerbrechen: Was will Bowie uns damit sagen? Warum geht er zurück in den «closet», wo seine Performance doch so vielen Leuten dabei geholfen hatte, rauszukommen aus dem Schrank der heterosexuellen Diktate? Und überhaupt: Schranken zu überwinden. Nicht nur Freud hätte seine Freude gehabt an diesem Abgang.

«Sue (Or in a Season of Crime)»

Aus dem Album «★» (Blackstar, 2016)

Für sein eben erschienenes Album «★» hat David Bowie mit jungen Musikern um den Jazzsaxofonisten Donny McCaslin zusammengearbeitet. Das hat mich hellhörig gemacht, dabei hatte ich mir bis dahin noch nie ein ganzes Album von Bowie angehört. Und spätestens im vierten Song wird die unvergleichliche Liveenergie von McCaslins Band vollends entfesselt. «Sue (Or in a Season of Crime)» beginnt düster mit Bassdrum und einer schnarrend verzerrten Gitarre. Ab dem ersten Harmoniewechsel legt Bowie seine zerbrechliche Stimme sanft und mit Nachdruck über die energiegeladene Szenerie und schafft einen ruhenden Pol, der sich durch den ganzen Song zieht. Neue mystische Klänge und unaufdringliche Saxofonbläsersätze erklingen scheinbar aus der Tiefe und tauchen wieder ab. Ich wünschte mir, dass dieses Stück nicht endet.

Roger Odermatt

Roger Odermatt arbeitet in der WOZ-Inserateabteilung und ist Sitarspieler.

«The Man Who Sold the World»

Aus dem Album «The Man Who Sold the World» (1970)

Vor der Erfindung des Glamrocks und der Wiedergeburt als Ziggy Stardust war es dunkel und unheimlich, zumindest im Titelsong von David Bowies dritter Platte. Der Sänger schildert hier nüchtern sein Aufeinandertreffen mit einem tot geglaubten Freund. «Oh no, not me», lautet dessen Antwort auf die Frage, ob er denn nicht bereits seit langem gestorben sei. Er habe nie die Kontrolle verloren, denn er sei «the man who sold the world». Konkreter wird das Geschöpf – ein gestrandetes Alien oder doch der Weltenherrscher persönlich? – nicht, denn der Sänger muss weiter, und er schleift eine Tonspur mit, die den Schwindel dieses Treffens akzentuiert. Der Rest ist ein wortloses Chorklagen, das die triste Gitarrenfigur nach und nach überdeckt.

Vier Jahre später deutete Bowie den Song für die Sängerin Lulu um und nahm ihn als saxofoninfizierten Hit neu auf. Es war dann Kurt Cobain, der «The Man Who Sold the World» beim Unplugged-Konzert mit Nirvana als das gesungen hat, was dieses Lied vermutlich doch ist: eines der verlorensten der Popgeschichte.

Benedikt Sartorius

«Warszawa»

Aus dem Album «Low» (1977)

Auch wenn David Bowies Lebenswerk durch das kontrollierte Spiel mit der Ambiguität von Popkultur besticht, so kommt ihm 1977 diese Kontrolle abhanden. Das Produkt und das, was vom Produzenten noch übrig ist, treten auseinander und verteilen sich jeweils auf die Vorder- und Rückseite der beiden Alben «Heroes» und «Low». Der gefällige Siebzigerrock der Oberfläche wird durch das elektronische Instrumental unterlaufen: Dem nervtötenden Titelsong von «Heroes» tritt die abgründige Wortlosigkeit von «Sense of Doubt» gegenüber.

Die bewegendste Komposition aber, die Bowie und Brian Eno jener dunklen Seite abgerungen haben, ist zweifellos «Warszawa». Eine Minute vergeht – dann hebt sich der Schleier und gibt den Blick frei auf eine vergessene Welt. Man erblickt sie nur kurz, dann überziehen, Schicht um Schicht, die Klänge des Analogsynthesizers die Ruinen der Zivilisation. Und als man es nicht mehr erwartet – Stimmen. Gesänge fremder Stämme, man kann sie nicht deuten. Nur eines versteht man: Da unten lebt immer noch etwas.

Philipp Theisohn

Philipp Theisohn ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Zürich.

«Time Will Crawl»

Aus dem Album «Never Let Me Down» (1987)

Aus Angst vor der Zukunft und der Zerstörung des Planeten einen tanzbaren ekstatischen Song zu machen – diese alchemistische Wunderleistung schafft nur Popmusik. Geschrieben im Nachhall der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl und mit Aussicht auf ein 21. Jahrhundert ohne Menschen überragt «Time Will Crawl» eine gröbere Schaffenskrise des Meisters. Die dazugehörige Platte wurde von der Kritik zerfetzt, die «Glass Spider»-Welttournee von 1987 war zwar kommerziell höchst erfolgreich, galt aber als künstlerischer Tiefpunkt: Aufgeblasen, überladen und prätentiös, monierte die Musikkritik.

Dagegen war «Time Will Crawl» musikalisch schlicht, sogar eher «grob», wie Bowie selber zugab: «Der Song pflügt sich einfach so durch.» Trotzdem liebte er das in Montreux komponierte Stück heiss. Wie auch der französische Filmemacher Leos Carax, der den Song in seinem grandiosen Desasterfilm «Les Amants du Pont-Neuf» verwendete, als Soundtrack zu einem aufgekratzten Tanz am Abgrund: irgendwo zwischen beschleunigter Zeitreise im Wurmloch, quälend langsamem Kriechgang und einem pechschwarzen Strom voller weissäugiger Fische.

Daniela Janser

«I’m Deranged»

Aus dem Album «Outside» (1995)

Ein Highway ins Nichts. Wie sich dann diese Stimme aus dem Schwarz der Nacht schält, geisterhaft und ohne Begleitung erst, wie ein trauriger Engel, aber irgendwie tröstlich, nach diesem verdammten Trip der Angst: «Funny how secrets travel.» Aus dem Hinterhalt pirscht sich rasch ein nervöses Schlagzeug heran, und spätestens im klagenden Refrain weisst du: Trost klingt anders. Die Verstörung wirst du so schnell nicht los, bloss weil der Abspann läuft, dieser Song wirft uns nur wieder zurück an den Anfang.

«I’m Deranged» heisst er, und der Film war natürlich «Lost Highway» (1997) von David Lynch. Für ein paar Jahre hatten wir damals im Kino eine Faustregel ausgemacht, die wir die David-Bowie-Abspannregel nannten. Singt Bowie zum Abspann, heisst das: toller Film. Fünf Meisterwerke aus fünf Jahren, das ist der kleine Kanon der David-Bowie-Abspannregel: «Seven», «The Ice Storm», «Memento», «American Psycho» und eben «Lost Highway». Wer will, kann später noch «Dogville» dazurechnen.

Florian Keller

«I’m Afraid of Americans»

Aus dem Album «Earthling» (1997)

Mit «I’m Afraid of Americans», einem Stück, das David Bowie zusammen mit Brian Eno schrieb und von seinem Protégé Trent Reznor von Nine Inch Nails als Single-Auskoppelung remixen liess, landete er 1997 seinen bisher letzten grossen Mainstreamhit: Der Song hielt sich ganze vier Monate in den US-Charts. Darin singt Bowie, als hätten ihn seine lang anhaltende Angst, seine Vorahnung der finsteren Überwachungssysteme der Nationalstaaten, der allmächtigen Konzerne und der Gleichschaltung aller Dinge in das Malaise getrieben.

Im dazugehörigen, paranoid anmutenden Videoclip jagt Reznor seinen Mentor zu krachenden Beats durch die Strassen Manhattans – und das alles in der visuellen Ästhetik des grellen Pop. Ganz mühelos macht sich hier Bowie Versatzstücke aus Drum ’n’ Bass und Industrial Music sowie digitale Aufnahmemöglichkeiten zu eigen, baut sie in seine Sounds ein und beweist, dass er auch 1997 – wie schon vorher – ganz vorne dabei war.

Georg Gatsas