Kommentar : Ein Dialog ist mehr als nur Gespräche
Die türkische Regierung zeigt sich gegenüber der bewaffneten kurdischen PKK erstaunlich verhandlungsbereit. Unklar ist jedoch, ob es ihr um einen echten Frieden geht oder nur um Zeitgewinn für die bevorstehende Serie von Wahlen.
Ankara verhandelt seit November erneut mit Abdullah Öcalan, dem Chef der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Es geht um die Aufgabe des bewaffneten Kampfs durch die PKK. Bekannt wurde das erst kürzlich. Kaum waren diese Gespräche auch in der türkischen Presse Thema, wurden in Paris drei PKK-Aktivistinnen ermordet. Eine der Frauen war Gründungsmitglied der PKK und in KurdInnenkreisen hoch angesehen. Viel mehr gesicherte Informationen gibt es dazu nicht.
Das meiste, was bisher darüber hinaus verbreitet wurde, sind Vermutungen, Gerüchte oder von einem oder einer an diesen sogenannten Friedensgesprächen Beteiligten bewusst gestreute Halbwahrheiten oder Lügen.
Und Beteiligte gibt es viele. Wer gehört dazu? Wird nur mit Öcalan «verhandelt» oder auch mit Murat Karayilan, de facto der derzeitige Führer der PKK in den nordirakischen Bergen? Wer vertritt die Falken unter den PKK-KämpferInnen, die bislang kein Interesse an einer Waffenruhe hatten? Haben diese Falken gar das Attentat in Paris organisiert, um solche Friedensverhandlungen zu torpedieren?
Welche Rolle spielt zudem die kurdennahe BDP (Partei für Frieden und Demokratie)? Immerhin durften zum ersten Mal zwei BDP-nahe Abgeordnete mit Öcalan sprechen. Was haben die nordirakischen KurdInnen um Masud Barsani und Dschalal Talabani zu sagen? Wird auch mit den syrischen KurdInnen gesprochen, und wenn ja, mit wem? Ist der iranische Geheimdienst eingebunden, oder gehört er vielleicht zu den Strippenziehern des Mordanschlags in Paris? Bekanntlich hat sich die Konkurrenz zwischen Ankara und Teheran um die Vorherrschaft in der Region zur kaum verdeckten Feindschaft entwickelt, seit beide Länder über dem Bürgerkrieg in Syrien offen aneinandergeraten sind.
Die entscheidenden Voraussetzungen zur Lösung der sogenannten Kurdenfrage sind seit langem bekannt: offizielle Friedensgespräche mit der PKK, eine Generalamnestie für PKK-Mitglieder, Hausarrest statt Gefängnis für Öcalan, die Möglichkeit der PKK, sich als legale politische Partei oder Bewegung zu konstituieren, eine neue demokratische Verfassung, in der alle türkischen StaatsbürgerInnen gleichberechtigt sind, unabhängig von ihrer Herkunft oder Religion, sowie mehr regionale Selbstverwaltung als bisher.
Seit über zehn Jahren stellt die konservativ-religiöse AKP von Ministerpräsident Tayyip Erdogan allein die Regierung in Ankara. Erreicht hat sie seither nicht viel. Sie kann offen mit der PKK verhandeln, ohne sofort als Vaterlandsverräterin gebrandmarkt zu werden – und ohne dass ihr die Armee in den Arm fällt. Und sie kann öffentlich einräumen, dass ohne Gespräche mit der PKK ein Frieden im Südosten des Landes nicht erreicht werden kann.
Aber noch wird sogar gestritten, ob das, was da stattfindet, tatsächlich Friedensverhandlungen sind, ein Dialog oder nur Gespräche. Öffentlich angeboten hat Regierungschef Erdogan der PKK bisher nur «freien Abzug» aus der Türkei in ein Land ihrer Wahl – das ist immerhin ein Zugeständnis. 1999 hatte die türkische Armee rund 500 PKK-KämpferInnen getötet, als die sich nach einem Aufruf Öcalans in den Nordirak zurückziehen wollten. Das Wort «Amnestie» ist jedoch noch nicht gefallen. Der Entwurf für eine neue Verfassung ist nicht in Sicht. Und «Hausarrest» für Abdullah Öcalan komme nicht infrage, sagte Erdogan vor wenigen Tagen gegenüber der Presse. Stattdessen bekam Öcalan einen Fernseher in seine Zelle.
Es scheint so, als versuche es die Regierung zunächst mit einem «Frieden light»: Ausreise der PKK-KämpferInnen im Austausch gegen die Einstellung der Operationen der türkischen Armee im Südosten des Lands. Gelänge das, hätte die AKP zumindest Zeit gewonnen. Eine Waffenruhe in den kommenden anderthalb Jahren wäre für sie von grossem Vorteil, denn in diesem Zeitraum finden gleich drei wichtige Wahlen statt: Kommunal- ebenso wie Parlamentswahlen sowie die Präsidentschaftswahl. Will die AKP dabei keine Stimmen an die RechtsnationalistInnen verlieren, muss sie Begräbniszeremonien für türkische Soldaten mit klagenden Angehörigen vermeiden. Ohne eine Waffenruhe könnte in nächster Zeit der bewaffnete Konflikt im Südosten der Türkei sogar an Schärfe zunehmen – wenn etwa die PKK bei einer Niederlage des Regimes von Baschar al-Assad noch mehr Unterstützung aus Syrien erhält als bisher.
Ob ein «Frieden light» gelingt, ist fraglich. Fest steht bisher nur, dass trotz des Mordanschlags in Paris die Verhandlungen über eine Waffenruhe weitergehen. Selbst bei der Beerdigung der Opfer im kurdischen Diyarbakir kam es zu keiner einzigen Provokation. Die französische Polizei will mittlerweile sogar einen «Mord eines Einzeltäters aus persönlichen Motiven» nicht ausschliessen.
Solch ein Ermittlungsergebnis würde allen Beteiligten sehr entgegenkommen. Man könnte sich gegenseitige Anschuldigungen ersparen – vorausgesetzt, es findet nicht demnächst ein weiterer Anschlag auf die Friedensgespräche statt.