Fumoir : Das seltsame Völlegefühl

Nr. 5 –

Esther Banz über Klimawandel plus Migration minus Ecopop.

Kürzlich war mal wieder ein Bekannter aus New Delhi in der Schweiz zu Besuch. Wir gingen zusammen auswärts Fondue essen, und ich wollte Kiran gerade fragen, weshalb er denn immer im Winter komme, ausgerechnet. Da sagte er bereits: «Es ist in Delhi so kalt wie nie zuvor. Hunderte Menschen sind erfroren.»

Wir redeten in der Folge über die Klimaveränderungen in Indien, die aussergewöhnlich extremen Kälte- und Hitzeperioden dort, und über die bröckelnden Berge in der Schweiz, und dabei bemerkten wir, wie das Paar am Nebentisch wenig diskret zu uns herüberschaute und ganz offensichtlich mithörte. Der fremde Mann guckte, schaute wieder weg, musterte uns erneut, schaute wieder weg, wirkte angespannt, und plötzlich platzte es aus ihm heraus: «In Delhi werden Frauen ganz brutal vergewaltigt und ermordet, und Sie unterhalten sich mit diesem Inder hier über das Wetter. Ich fasse es nicht.»

Ich fasste es auch nicht. Ich wollte etwas entgegnen, aber Schlagfertigkeit war noch nie meine Stärke. Also ignorieren? Oder doch sich verteidigen? Der Abend war noch lange, und sowieso wären wir auf diese schreckliche Tat zu sprechen gekommen und auf die unbekannte Dunkelziffer an Vergewaltigungen und häuslicher Gewalt, auf den Machismus, die Korruption und so weiter.

Eine Rechtfertigung schien mir also keineswegs angebracht. Ich schwieg. Der Fremde doppelte nach, an seine Begleiterin gewandt: «Musst dann schauen, ausgerechnet wegen dem Wetter, für das niemand etwas kann, wird es zum dritten Weltkrieg kommen. Ganz bestimmt.»

Bald traten Kiran und ich auf die Strasse, es lag Schnee, und er sagte: «Es ist so ruhig bei euch, keine Menschen weit und breit, ich staune jedes Mal wieder.» Kiran erzählte, wie er sich bei seinem allerersten Europabesuch in Kopenhagen so hartnäckig schwermütig fühlte ob der Menschenleere und Stille, dass er den Besuch frühzeitig abbrach und nach Hause reiste. Dass es ihm sofort besser ging, als er in das chaotische Delhi eintauchte, dieses Gewusel in den Strassen, den Lärm. Ich erzählte ihm, dass sich viele SchweizerInnen Sorgen machen wegen der Zuwanderung hierzulande, dass es vielen zu eng werde, bereits von Überbevölkerung die Rede sei. Kirans Kommentar war ganz einfach: «Ihr seid verrückt.» Und dabei hat er noch nicht einmal gesehen, wie menschenleer es in manchen Dörfern geworden ist, im Flachland und vor allem in den Bergen.

In Bergdörfern wirken Zuwanderungsängste ja besonders surreal. An einem solchen Ort erzählte mir eine Bäuerin kürzlich, dass die EinwohnerInnen mit dem Schliessen des Dorfladens auch den letzten Treffpunkt verloren hätten. Dass man jetzt die anderen DorfbewohnerInnen eigentlich nur noch hinter dem Steuerrad sitzen sehe und man selber auch praktisch nur noch mit dem Auto unterwegs sei, denn weshalb sollte man durchs Dorf spazieren, wenn es dort nichts zu tun gibt, wenn die Schule, die Arbeit, das Einkaufen und alles andere ausserhalb des Dorfs oder im Internet stattfindet?

Sie sagte, dass sie sich immer über neue Gesichter freue. Ich fragte sie deshalb, ob sie sich vorstellen könnte, dass diese neuen Gesichter auch mal von weiter herkämen, aus Afrika zum Beispiel, und länger im Dorf bleiben würden. Da erschrak sie zunächst. Dann meinte sie, ernst und nachdenklich: «Es gibt hier viel zu tun. Und es könnte noch viel mehr zu tun geben. Es hat Platz und Häuser, die die meiste Zeit leer stehen. Ja, das könnte ich mir vorstellen.» Dann fügte sie noch an: «Es müssen aber Leute sein, die chrampfen können. So wie wir. So wie unsere Vorfahren, die sich einst von fern hier niedergelassen haben.» 

Esther Banz ist freie Journalistin in Zürich.