Kommentar: Das Land der Diebe und Betrügerinnen
Die jüngsten Bestechungsskandale haben Spanien eine weitere Krise beschert, die das bestehende Parteiensystem ruinieren könnte – was gar nicht so schlecht wäre.
«Das stimmt nicht. Nichts davon stimmt.» Seit gut einer Woche versucht Ministerpräsident Mariano Rajoy, die SpanierInnen von seiner Unschuld zu überzeugen. Dass ihm kaum jemand glauben will und es deshalb täglich im ganzen Land zu Kundgebungen kommt, hat einen einfachen Grund: Der aktuelle Skandal um die Schwarzgelder seiner rechtskonservativen Volkspartei PP ist nur einer von vielen Punkten auf einer langen Liste von Korruptionsfällen. Über 300 PolitikerInnen fast aller Parteien stehen derzeit wegen Amtsmissbrauch und Bestechlichkeit vor Gericht, und es kommen laufend neue Anklagen dazu.
Vor einer Woche veröffentlichte die Tageszeitung «El País» handgeschriebene Dokumente des langjährigen PP-Geschäftsführers Luis Bárcenas, denen zufolge die Führungsmitglieder der Partei, darunter auch Rajoy, zwischen 1990 und 2008 regelmässig Gelder in Höhe von bis zu 15 000 Euro monatlich erhalten haben sollen. Diese Zuwendungen seien bis 2007 legal gewesen, solange sie dem Fiskus deklariert wurden, verteidigt sich inzwischen der in die Enge getriebene Ministerpräsident. Er will demnächst seine Steuererklärungen publizieren. Tatsächlich waren laut damaligem Parteienfinanzierungsgesetz Spenden von Privatpersonen bis zu einer Höhe von 60 000 Euro erlaubt. Aber nicht Überweisungen von Firmen, die mit der öffentlichen Hand Verträge abgeschlossen hatten. In Bárcenas’ Notizen tauchen vor allem Unternehmen der Bau- und Immobilienbranche auf, die in den Jahren des ungebremsten Booms von Entscheidungen der PP-Regionalregierungen profitierten und deren Beträge die 60 000-Euro-Grenze erheblich überschritten.
Und so hält die Empörung an. Vor allem die verarmten Bevölkerungsschichten wollen nicht einsehen, dass bei ihnen über die Schmerzgrenze hinaus gespart wird, während die Verantwortlichen für die Krise jahrelang ihre Taschen füllten. Denn bekannt ist mittlerweile auch, dass Bárcenas 22,1 Millionen Euro auf ein Konto der Dresdner Bank in Genf geschafft hatte und eine Steueramnestie nutzte, um einen grossen Teil des Geldes legal nach Spanien zurückzuführen. Nun hat die Audiencia Nacional, der eigentlich auf Terrorismus spezialisierte Nationale Gerichtshof, ein Verfahren gegen ihn eröffnet. Ausserdem ermittelt die Staatsanwaltschaft seit Jahren gegen den PP-Politiker. Bárcenas ist offenbar auch in einen millionenschweren Korruptionsfall verwickelt: Über Jahre hinweg hatten sich spanische Unternehmen durch die Bestechung hochrangiger PP-PolitikerInnen in Madrid, Valencia und Galizien lukrative öffentliche Aufträge verschafft.
Dies ist zwar der bislang grösste aufgedeckte Korruptionsskandal, aber bei weitem nicht der einzige. Im März 2012 wurde beispielsweise der ehemalige Regierungschef der Balearen und PP-Politiker Jaume Matas zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt – wegen Amtsmissbrauch, Bestechlichkeit, Veruntreuung öffentlicher Gelder, widerrechtlicher Aneignung, Urkundenfälschung, Vorteilsgewährung, Geldwäsche, Steuerhinterziehung und Wahlbetrug. Diese Vorwürfe stehen im Zusammenhang mit dem Bau der Radrennbahn Palma Arena in Palma de Mallorca, bei deren Finanzierung auch der Schwiegersohn von König Juan Carlos seine Finger im Spiel hatte. Iñaki Urdangarín, gegen den jetzt ebenfalls Anklage erhoben wurde, liess sich seine Vermittlungsdienste mit rund sechs Millionen Euro öffentlicher Gelder honorieren.
Doch nicht nur die PP steckt tief im Schmiergeldsumpf. Auch Mitglieder der sozialdemokratischen PSOE haben sich erwischen lassen. In Andalusien stehen derzeit sechs hohe Beamte der PSOE-Regionalregierung wegen millionenschweren Betrugs mit Frühpensionierungen vor Gericht. Und dem ehemaligen PSOE-Minister José Blanco wird vorgeworfen, 2011 von einem galizischen Unternehmer 400 000 Euro erhalten und diesen im Gegenzug mit öffentlichen Subventionen versorgt zu haben. Das in Katalonien regierende nationalistische Bündnis Convergència i Unió (CiU) wiederum gab vor kurzem zu, in den neunziger Jahren EU-Gelder abgezweigt zu haben, die für Weiterbildungskurse für Arbeitslose bestimmt waren. Ausserdem sind CiU-Politiker in eine Affäre um die Stiftung von Barcelonas Musikpalast verstrickt. Dabei wurden zwischen 2003 und 2008 rund 35 Millionen Euro öffentlicher Gelder veruntreut.
Das System des Gebens und Nehmens konnte auch deswegen so lange überleben, weil die PolitikerInnen wenig zu befürchten hatten. Verstösse gegen das Parteienfinanzierungsgesetz verjähren nach vier Jahren, die Prüfungsberichte des Rechnungshofs – dessen Mittel im aktuellen Haushalt gekürzt wurden – dauern jedoch durchschnittlich fünf Jahre. Und sollte es doch einmal zu einer Verurteilung kommen, stehen die Chancen auf eine Begnadigung nicht schlecht: In den letzten dreizehn Jahren haben Spaniens Regierungen rund 230 PolitikerInnen vorzeitig aus der Haft entlassen. Kein Wunder also, dass die Polizei nun im ganzen Land die Parteibüros der PP weiträumig abgesperrt hat.
Jetzt verlangen Tausende SpanierInnen Neuwahlen. Ministerpräsident Rajoy wird jedoch alles tun, um das zu verhindern. Laut jüngsten Umfragen käme seine Partei auf gerade noch 24 Prozent. Bei der Wahl im November 2011 waren es noch 45 Prozent.