Lawrence D. «Butch» Morris (1947–2013): Ein Reisender ohne Orchester
Am 29. Januar verstarb in New York der afroamerikanische Musiker und «Conductor» Lawrence D. «Butch» Morris im Alter von 65 Jahren an Krebs. Mit seinen Projekten und seiner neuen Form des Dirigierens war er immer wieder auch in der Schweiz zu erleben.
1985 beschloss der Kornettspieler Lawrence D. «Butch» Morris, sein Instrument etwas auf die Seite zu legen. Über zwölf Jahre war er schon damit beschäftigt, eine neue Form des Dirigierens zu entwickeln, die die Improvisation mit einschliessen und sich für unterschiedlichste Bands und Orchester eignen sollte.
«Conduction» nannte er die neue Form, wozu er zwar den Dirigentenstab, aber keine Noten mehr brauchte. Die neue Art des «Komponierens» entsteht aus dem Moment heraus, die MusikerInnen reagieren auf seine Zeichen, Signale und Gesten. So organisiert der «Conductor» das überraschungsreiche Zwiegespräch mit dem Orchester, bildet temporäre Untergruppen und lässt Instrumentalisten und Sängerinnen genügend Spielraum zur Entfaltung.
Vietnam in der Seele
Der im Grossraum von Los Angeles aufgewachsene Butch Morris wurde als Neunzehnjähriger in die US-Armee eingezogen, war einige Monate in Deutschland stationiert und wurde 1967 als Sanitäter nach Vietnam verlegt. Erst Jahrzehnte später verarbeitete er, zusammen mit anderen Vietnamveteranen, die traumatischen Erlebnisse: Sie erschienen unter dem Namen des Violinisten Billy Bang (1947–2011) als «Vietnam the Aftermath» (2001) und «Vietnam Reflections» (2005) auf CD.
1970, nach der Rückkehr aus Vietnam, entschied sich Morris definitiv für die Musik und den warmen Klang des Kornetts. Mitte der siebziger Jahre, nach einem längeren Aufenthalt in Paris, wurde er in New York ansässig. Erste Aufnahmen mit Musikern aus Frankreich und den USA erschienen unter seinem Namen. Parallel dazu spielte er Kornett in den Gruppen der Saxofonisten Frank Lowe und David Murray, dessen Orchester er bis in die neunziger Jahre leitete.
Ein neues Dirigentenvokabular
Die 1986 veröffentlichte Schallplatte «Current Trends in Racism in Modern America (A Work in Progress)» markierte einen Wendepunkt: Morris bezeichnet die Liveaufnahme aus dem New Yorker Jazzclub The Kitchen vom 1. Februar 1985 als erste «Conduction» und sich selbst als «composer/conductor/improvisor». Neben seinem Weggefährten Frank Lowe waren der Altsaxofonist John Zorn, die Harfenspielerin Zeena Parkins und der Turntable Artist Christian Marclay mit dabei. Ab diesem Datum nummerierte Morris seine Conductions nach dem Eingangsdatum der Anfrage durch.
Parallel zu seiner Arbeit mit Bands beginnen nun seine Reisen mit leichtem Gepäck. Morris ist als Orchesterleiter ohne Orchester unterwegs. Anfragen aus aller Welt treffen bei ihm ein, und oft sind es befreundete MusikerInnen, die an ihren Wohnorten die Initiative ergreifen und zur weltweiten Vernetzung beitragen. Die Ensembles werden normalerweise lokal gebildet, gelegentlich sind Gäste aus seinem New Yorker Umfeld dabei.
Und immer wieder hat Morris auch in der Schweiz Station gemacht: Am 1. Juli 1989 versammeln sich zehn MusikerInnen in der Zürcher Roten Fabrik, um Christian Marclays «Rendez-vous Zurich New York» aufzuführen. Das Konzert ist für Morris die Conduction Nummer 16. Ein Jahr später beteiligt sich Morris beim Projekt «Klangbrücke Bern» von Andres Bosshard, und im Herbst 1989 lädt ihn Hans Koch für eine Woche nach Biel ein. Die fünfzehn MusikerInnen arbeiten täglich an den «Projections Sonores»: Morris lehrt die Anwendung seiner Zeichen und Gesten, den Abend beschliessen sie mit kleinen Konzerten. Am Wochenende folgt die Conduction Nummer 66. Nummer 70, die am folgenden Tag in Zürich gespielt wird, erscheint als CD mit dem Titel «Tit for Tat».
Über all die Jahre hat Morris sein Dirigentenvokabular verfeinert und in Konzerten mit traditionellen Tsuzumi-Trommel-Gruppen in Japan, türkischen Sufimusikern, PoetInnen von Downtown Manhattan und SchauspielerInnen des Marthaler-Ensembles ausprobiert. Mit seinen rund 200 Conductions hat er gezeigt, dass sein Konzept in unterschiedlichsten Kulturen greift und auf verschiedenste Instrumente angewendet werden kann.
Die Regeln der Freiheit
Der Bündner Altsaxofonist Werner Lüdi (1936–2000) hat Anfang 1999 zwei Proben mit dem Bodensee-Ensemble und dem Trio Koch-Schütz-Studer in der Schaffhauser Kammgarn besucht und sich mit Morris unterhalten. In der WOZ vom 11. Februar 1999 zitiert ihn Lüdi: «Wenn ich Besprechungen über Conduction lese, so darf ich immer wieder feststellen, sie sind schlicht falsch. Das wohl häufigste Argument ist, ich würde Freiheit diktieren. This is bull… Ich diktiere keine Freiheit. (…) Aber ich entwickle eine Form und sage den MusikerInnen, das sind die Regeln. Wie sie mit den Regeln umgehen, bleibt ihre Sache. Das eine Zeichen meint: wiederholt die Sequenz; ein anderes meint: verharrt in der Position (…) Ich gebe symbolische Informationen, und jede und jeder hat die Freiheit, innerhalb des Vokabulars ihre/seine Interpretation zu finden. Mein System ist nicht nur für die frei improvisierenden MusikerInnen oder InterpretInnen, sondern für alle, die an dieser Art Musik teilhaben möchten. Was ich erwarte, ist, dass sie ein Teil des Ganzen sein möchten …»