Bündner Olympiaabstimmung: Ueli Maurer fährt ins Durcheinandertal
Unterstützt von einer gut geölten PR-Maschinerie, sucht das Bündner Establishment sein Heil in Bundesmilliarden für Olympische Winterspiele im Jahr 2022. Der Bundespräsident reist von Podium zu Podium und leistet den Olympiapromotoren fragwürdige Hilfe – auch finanziell.
Ueli Maurer ahnte, dass nicht alles glattgehen würde. Aber dass am Ende Parteikollegen aus der SVP seinen Bundesratssitz infrage stellen würden, dachte er an diesem bitterkalten Abend Ende Januar wohl nicht. Maurer sah etwas verloren aus, wie er im Vorraum der Schulanlage in Jenaz herumstand – die Hände verschränkt, das Gewicht aufs rechte Bein verlagert, grinste er verlegen zwei Kollegen an. In wenigen Minuten würde er den Saal betreten, wo über 200 PrättigauerInnen gespannt auf die Rede des Bundespräsidenten warteten. «Das wird Jenaz die nächsten zehn Jahre nicht mehr erleben, dass sich der Bundespräsident hier blicken lässt», hatte der Wirt im Gasthaus Hirschen gesagt.
Ueli Maurer war gekommen, um die PrättigauerInnen für Olympische Winterspiele zu begeistern, eingeladen hatten ihn das Komitee OlympJa und die SVP. Es sah also nach einem Heimspiel für den Bundespräsidenten aus. Als Moderator trat Heinz Brand auf, der Bündner SVP-Nationalrat und Olympiabefürworter. Er war, wie er selbst sagte, für «kritische Fragen» zuständig.
Aber das würden an diesem Abend andere besorgen.
Ein begeisternder Begeisterter
Gian Gilli beugt sich leicht nach vorn und fängt an zu tippen. Hinter ihm lichten sich die Reihen, die Aula der Universität Zürich leert sich. Bald sitzt Gilli allein in der ersten Reihe, den aufgeklappten Laptop auf den Knien, den Blick auf den Bildschirm gerichtet. Er komme gleich raus, sagt er, ihm sei bloss gerade etwas eingefallen, das er in seine Präsentation einbauen wolle. Nach einer kurzen Kaffeepause ist er an der Reihe. Anlässlich der Gründung eines Kompetenzzentrums für Sportmanagement spricht er an diesem Freitagmorgen über die Olympiakandidatur Graubündens. Gilli (55), geboren in Samedan, aufgewachsen in Zuoz, gelernter Sportlehrer, Grenadier, Langläufer, dreifacher Familienvater, gehört zu den erfolgreichsten Sportmanagern der Schweiz. Seit den neunziger Jahren ist er in wechselnden Funktionen für den Schweizer Wintersport unterwegs, 2003 organisierte er die Ski-WM in St. Moritz, 2009 die Eishockey-WM in Zürich und Bern. Seither arbeitet er bei Swiss Olympic als Sportdirektor und Leiter der Schweizer Delegation.
Wenn einer Olympische Winterspiele in der Schweiz möglich machen kann, dann er, heisst es. Gilli gilt als Mister Olympia, seit über einem Jahr arbeitet er im Auftrag von Swiss Olympic als Direktor des Vereins Graubünden 2022 und eilt von Termin zu Termin: Sitzung, PR-Anlass, Interview, Sitzung, Informationsveranstaltung, Pressekonferenz.
Jetzt steht er auf, geht nach vorne zum Rednerpult und startet die Powerpointpräsentation. Gian Gilli ist ein begeisternder Begeisterter – leidenschaftlich, enthusiastisch, ein Vulkan, aus dem unaufhörlich Argumente sprudeln. Aber in Zürich muss er niemanden überzeugen, die Anwesenden sind vorwiegend Sportfans oder SportstudentInnen. Und ihre Stimme wird am 3. März, wenn die Bündner Bevölkerung über einen 300-Millionen-Kredit für Olympische Winterspiele im Jahr 2022 abstimmt, nicht zählen.
Gian Gillis Vortrag ist routiniert: rhetorisch makellos, atemberaubendes Tempo, ein, zwei Seitenhiebe gegen die OlympiagegnerInnen («unsere Zahlen basieren auf Erfahrungen, die unserer Opponenten auf Behauptungen») – was Gilli hier erzählt, hat er schon Dutzende Male geübt, und bis zum 3. März wird er es noch viel öfter wiederholen. 150 Auftritte sollen es bis zum Abstimmungssonntag werden. Das Konzept, das Gilli und seine Leute in alle Bergtäler Graubündens tragen, klingt vernünftig, anders, charmant. Sie wollen «zurück zu den Wurzeln», sagen die Olympiapromotoren an jeder Veranstaltung, ihr Konzept wende sich vom «Olympiagigantismus» ab. Es soll, wie der CVP-Ständerat Stefan Engler an einem Anlass in Chur sagte, eine «Provokation für das Olympische Komitee» sein. Winterspiele in Graubünden wären ein Abschied vom gängigen olympischen Modell mit einer grossen Stadt als Host City und Wettkämpfen, verteilt auf verschiedene Städte und Regionen. Die Promotoren verschieben alles in die Berge, nach St. Moritz und Davos, wo die Wege kurz sind und die Hänge verschneit. Tatsächlich ist dieses Konzept ein Gegenstück zu Sotschi etwa, dem russischen Badeort, wo nächstes Jahr Winterspiele im Nichts oder in Naturschutzgebieten ausgerichtet werden. Und wenn Gian Gilli in Zürich, in Flims, in St. Moritz oder in Klosters die Bescheidenheit von «weissen Spielen in den Bergen» lobt, dann tönt es irgendwann fast, als wären Olympische Winterspiele in Graubünden ein familiärer Anlass im gemütlichen Rahmen.
«St. Moritz 2022» würden die Winterspiele heissen, wenn am 3. März die BündnerInnen, dann das Parlament in Bern und schliesslich 2015 das Internationale Olympische Komitee (IOC) zustimmten. In Zahlen bedeutet das: zwei Wochen Olympia, zwei Wochen Paralympics. Wettbewerbe in vier Ortschaften – St. Moritz, Davos, Lantsch/Lenz und Klosters. 23 000 Zimmer im Umkreis von 90 Reiseminuten. 6000 AthletInnen, 4500 Sicherheitsleute, 15 000 bis 23 000 freiwillige HelferInnen, 52 000 bis 112 000 BesucherInnen pro Tag – an Spitzentagen macht das über 150 000 Personen. Zum Vergleich: Im ganzen Kanton leben derzeit 193 000 Menschen. 24 000 ZuschauerInnen können an einem Tag mit der Bahn nach St. Moritz und Davos fahren, wenn Ringzüge auf zwei verschiedenen Routen verkehren, die 8-Wagen-Kompositionen mit je 300 bis 500 Personen einen 7,5-Minuten-Takt einhalten und so 4000 Gäste pro Stunde befördern. Dafür müssen die Netze der SBB und der Rhätischen Bahn (RhB) für 641 Millionen Franken ausgebaut werden, die RhB muss für über 350 Millionen neues Rollmaterial anschaffen. Die restlichen 88 000 ZuschauerInnen müssen mit Bussen in die Berge fahren: Das macht 1750 Busfahrten pro Tag und Richtung (ohne Lokalverkehr) beziehungsweise 1800 benötigte Reisecars – und das bei 2650 in der Schweiz registrierten Fahrzeugen. In ihrer Machbarkeitsstudie illustrieren das die Olympiapromotoren mit einem Beispiel: «Vor einem Skirennen werden in St. Moritz zwischen 10 und 11 Uhr rund 8330 Personen mit Bussen, das heisst rund 166 Busse innerhalb einer Stunde, eintreffen.» Um diesen Menschenstrom zu bewältigen, müssen drei Busse pro Minute entleert werden.
So erzählt Gian Gilli das olympische Wintermärchen natürlich nicht. In der Aula der Uni Zürich spricht er von Nachhaltigkeit, von Innovation, von Olympischen Winterspielen als Entwicklungsprojekt für den Kanton Graubünden der nächsten zwanzig, dreissig, vierzig Jahre. Und er sagt, dass an der Ski-WM 2003 in St. Moritz an einem Tag ja auch 38 000 Gäste zu Besuch gewesen seien.
Gilli weiss, dass die olympische Frage auch eine der Perspektive ist. Er beendet seinen Vortrag mit einer Frage: «Eigentlich geht es um eine Glaubensfrage. Glaubt der Stimmbürger uns? Oder glaubt er den Opponenten?»
Ein Skeptiker
Für Tino Niggli hat Olympia mit Glauben nichts zu tun. Vielmehr mit handfesten Erfahrungen, mit Stau und Abgasen. Er halte nicht viel von diesen Spielen, sagt der Wirt im «Hirschen» in Jenaz mit einer Gelassenheit, die derzeit nur selten zu spüren ist, wenn das Wort «Olympia» fällt. Die letzten Gäste sind aufgebrochen, Niggli räumt auf, faltet die Zeitungen, steckt sie in den Ständer und geht rüber zum Fumoir, wo er zuvor eine brennende Mary Long in den Aschenbecher gelegt hat. Er klopft die Asche ab, nimmt einen Zug und sagt: «Ich bin kein Grüner, überhaupt nicht. Ich bin eher konservativ. Aber der Verkehr beunruhigt mich.» An schönen Wochenenden, wenn die WintersportlerInnen am Abend aus Davos zurück ins Unterland durchs Prättigau fahren, dann sieht er vom Fenster aus die Blechlawine auf der Hauptstrasse, wie sie stockend talwärts rutscht. «Bei Grossanlässen wie dem Spengler Cup ist hier alles verstopft – von weit einwärts bis runter nach Landquart.»
Niggli stammt aus dem Prättigau, besass dreissig Jahre lang eine eigene kleine Firma für Betonelemente, lebte in Zürich und in St. Gallen, seit einem Jahr aber führt er das Gasthaus Hirschen. Es läuft mehr schlecht als recht, die TouristInnen fahren eher vorbei, als dass sie hier einkehren würden. Und 2022, falls die Olympischen Winterspiele tatsächlich in Graubünden stattfinden sollten, wird Tino Niggli in Pension gehen. Nicht nur deshalb hat er ein begrenztes Interesse an einer Olympiakandidatur. «Es heisst, für die Olympischen Spiele würden sie eine Doppelspur bauen. Nur, dann halten hier noch weniger Züge.» Auswärts, nach Landquart, fahre ein Zug pro Stunde, aber wenn man nach Davos wolle, müsse man schon heute zurück nach Schiers, umsteigen, um dann wieder an Jenaz vorbeizufahren. «Olympische Spiele», sagt Niggli, «was sollen wir damit?»
Er zapft ein Bier und fragt, wie der Auftritt des Bundespräsidenten in der Schulanlage gewesen sei.
Der grosse Förderer
Ueli Maurer zog ein gefaltetes A4-Blatt aus der Innentasche seines Vestons, schaute kurz drauf und erklärte dann in einer dreissigminütigen Rede den Segen Olympischer Winterspiele. Er vergass dabei nicht, den BündnerInnen zu schmeicheln und sie mit Anekdoten für sich zu gewinnen. «Der Bund sucht einen Partner», sagte er an diesem Abend in Jenaz. Bei einem Auftritt in St. Moritz fügte er wenige Tage später an: «Und der einzige Partner, der infrage kommt, ist Graubünden.» Applaus. Der Bund als Bittsteller – das gefällt den BündnerInnen. Und Ueli Maurer weiss das.
Mindestens elfmal ist Maurer in den letzten Wochen im Kanton Graubünden aufgetreten. Immer wieder wird er dabei als grosser Förderer angekündigt, ohne den das Projekt Olympia nicht möglich wäre. Der Bundespräsident gehe zu weit, finden seine GegnerInnen, wenn er sich als Olympiapromotor in den kantonalen Abstimmungskampf einschalte. Ueli Maurer sieht darin kein Problem. Auf die Kritik angesprochen, sagte er einsilbig, er vertrete bloss die Sicht des Bundesrats. Aber er tut viel mehr als das. Und das seit der ersten Stunde.
Das Geld aus Bern
Den Grundstein für die Olympiakandidatur hat Sportminister Ueli Maurer schon früh gelegt. Gian Gilli leitet seine Vorträge jeweils mit der Anekdote ein, dass Ueli Maurer während der Winterspiele 2010 in Vancouver begeistert ins Olympiacamp gekommen sei und gefragt habe, ob die Schweiz so etwas auch könne. Ein halbes Jahr später richtete der damalige FDP-Nationalrat und heutige Davoser Landammann Tarzisius Caviezel eine entsprechende Anfrage an den Bundesrat, und das Projekt Olympia 2022 nahm seinen Lauf.
Am 21. Dezember 2011 traf sich Sportminister Ueli Maurer um 11 Uhr vormittags mit Chefbeamten, PolitikerInnen, der Bündner Regierung und Vertretern des Sportverbands Swiss Olympic im Bundeshaus Ost zu einer Sitzung. Als Gast eingeladen war zudem Urs Lacotte, ein ehemaliger VBS-Mann, Oberst und wenige Monate vorher zurückgetretener Generaldirektor des IOC. Als die Sitzung eine halbe Stunde später geschlossen wurde, war der «Verein XXIV. Olympische Winterspiele Graubünden 2022» gegründet – mit Ueli Maurer als Gründungsmitglied. Zweck des Vereins ist unter anderem die Prüfung der Machbarkeit von Olympischen Winterspielen, die Promotion der Kandidatur und die Herbeiführung der erforderlichen politischen Beschlüsse.
Der Verein ernannte Gian Gilli zum Direktor und obersten Olympiapromotor, den eifrigen Engadiner, der seither ständig auf Achse ist, um nach 1928 und 1948 vielleicht doch noch einmal Olympische Winterspiele nach St. Moritz zu holen.
Hinter dem freundlichen Mister Olympia steht eine gut geölte PR-Maschinerie, die, mit grosszügigen Mitteln ausgestattet, einen geschliffenen Abstimmungskampf führt: weniger auf Plakatwänden, dafür aber in Mehrzweckhallen und Schulanlagen, bei Häppchen und Weisswein, vor allem auch in den Medien. Kaum eine Woche vergeht, ohne dass der Verein nicht zu einer Pressekonferenz lädt, um eine neue Studie, eine Anpassung einer Studie oder eine andere Neuigkeit vorzustellen. Am Ende der einen Medienkonferenz kündigt der Mediensprecher jeweils gleich die nächste an, damit sich die JournalistInnen den Termin freihalten und so, tröpfchenweise, für eine konstante Berichterstattung sorgen.
Der professionelle Auftritt kostet. Bis zur Abstimmung am 3. März wird der Verein 5,4 Millionen Franken ausgegeben haben. Für die Abstimmungskampagne, beschwichtigt die Medienstelle, stehe aber nur ein tiefer sechsstelliger Betrag zur Verfügung.
Unterstützung erfährt der Verein vom Unterhaltungskonzern Ringier, dessen Tochterfirma für Sportmarketing im Auftrag von Swiss Olympic private Sponsoren sucht. Ringier eilt der Olympiakandidatur auch anderweitig zu Hilfe: Kürzlich machte die «SonntagsZeitung» publik, dass Ringier-CEO Marc Walder und Ueli Maurer am Wef zusammengesessen seien, um hundert Prominente für ein Ja zu Olympia zu gewinnen, darunter Tennisstar Roger Federer oder Fussballnati-Trainer Ottmar Hitzfeld. Als Antwort darauf lancieren diese Woche rund ein Dutzend Bündner KulturpreisträgerInnen einen Aufruf «gegen Olympia und die Fantasielosigkeit».
Auch Maurers Departement VBS hilft dem Verein Graubünden 2022. Es zahlt ihm rund 1,3 Millionen Franken. Dass dieses Geld für die kantonale Abstimmungskampagne verwendet wird, stritt der Bundespräsident in Jenaz ab: «Der Bund zahlt nur konkrete Projekte, zum Beispiel Studien.» Dazu gehören fast alle Studien, die der Verein Graubünden 2022 in den letzten Wochen und Monaten veröffentlichte – zur Machbarkeit, zur volkswirtschaftlichen Bedeutung, zur Nachhaltigkeit sowie zu den wirtschaftlichen Effekten.
Wie Maurers Departement später auf Nachfrage eingestand, kommt der Bund allerdings auch für die Arbeit von Urs Lacotte auf. Der ehemalige IOC-Generaldirektor hat ein Mandat als «strategischer Berater im Bereich der Olympia-Kandidatur» und leitet das Projekt «Nachhaltigkeit, Innovation, Vermächtnis» (NIV). Die Erarbeitung der sogenannten NIV-Charta kostete rund 210 000 Franken, wie das Bundesamt für Sport erklärt. Das sorgt selbst bei Maurers Parteikollegen für Unmut. SVP-Nationalrat Roland Büchel findet, dass der Bundesrat «eine Behördenpropaganda der unangenehmen Art» betreibe. «Dass das VBS mit Steuergeldern auch noch einen ehemaligen IOC-Top-Funktionär engagiert, passt ins traurige Bild.»
Das Versprechen
Mit seiner Olympiabegeisterung erinnert Maurer manchmal an Adolf Ogi, den anderen SVP-Bundesrat, der mit Sion 2006 schon einmal versuchte, Olympische Winterspiele in die Schweiz zu holen und dann an den Funktionären des IOC scheiterte. Maurer verdrängt offenbar, dass sein Engagement seit Wochen kritisch beäugt und seinen Worten ein seltenes Gewicht verliehen wird.
Bei seinem Auftritt in Jenaz verhedderte sich Maurer im Durcheinander widersprüchlicher Argumentationen. Als er sagte, es gehe ihm um die Weiterentwicklung der «Randregion Graubünden» und mit Olympischen Winterspielen könne die anhaltende Landflucht aus den Bündner Bergtälern gestoppt werden, veranlasste das René Stierli, einen lokalen Immobilientreuhänder und überzeugten SVPler, zu regem Widerspruch. St. Moritz gehöre zu den bekanntesten Orten der Welt, sagte er. Bereits heute seien die Quadratmeterpreise in St. Moritz unbezahlbar. «Glauben Sie, dass die Abwanderung gestoppt wird, wenn St. Moritz noch bekannter, noch teurer wird?»
Und dann beging Maurer gleich noch einen Fehler: Er machte Versprechungen. Sollte Graubünden am 3. März Ja sagen, verkündete er, würden Bündner Projekte vom Bund künftig priorisiert. Es käme zu Verschiebungen im Bundesbudget. Schliesslich holte er aus zu jener Aussage, die später für Verwirrung und Missmut sorgen würde: «Wir stehen jetzt zehn Jahre vor der Durchführung, und es wäre nicht ehrlich, wenn wir sagen würden: Wir wissen, was in zehn Jahren ist. Aber der jetzige Stand zeigt, dass es mit einer Milliarde möglich ist.» Wenn es aber dann 500 Millionen mehr würden, wäre dies «verkraftbar». 2015 müsse der Bund dem IOC eine Garantie abgeben, dass allfällige Mehrkosten nicht vom IOC bezahlt werden müssten. «Faktisch übernimmt der Bund damit eine Defizitgarantie.»
Die Kritikerin
Silva Semadeni kommt gerade von einem Streitgespräch am Radio, nachher muss sie weiter zu einem Fernsehinterview. Und jetzt ruft die Lokalzeitung an und erkundigt sich bei der SP-Nationalrätin nach dem Auftritt von Ueli Maurer in Jenaz. «Was soll ich denn dazu noch sagen? All diese Auftritte – der Bundespräsident übertreibt masslos. Es geht schliesslich um eine kantonale Abstimmung.» Und dann zählt Semadeni der Journalistin am Telefon die jüngsten Auftritte des Bundespräsidenten im Kanton auf, entschuldigt sich für den Unterbruch und sagt, so gehe es die ganze Zeit. Die heisse Phase des Abstimmungskampfs hat begonnen, und als Präsidentin des Komitees Olympiakritisches Graubünden ist sie eine gefragte Frau. Semadeni stört sich daran, dass Maurer durch die Talschaften reist und den Leuten das Blaue vom Himmel verspricht. «Der Bundesrat kann keine Defizitgarantie abgeben. Darüber entscheidet das Parlament. Und wenn Maurer sagt, man werde bei den Verkehrsinfrastrukturen Bündner Projekte vorziehen, dann ist das zwar schön für den Kanton Graubünden. Aber was heisst das für die anderen verkehrsgeplagten Regionen in der Schweiz?»
Semadeni traut den Aussagen der Olympiabefürworter nicht, besonders wenn es um die Finanzen geht. In den letzten fünfzig Jahren hätten alle Olympischen Spiele die Kosten überschritten. «Das Budget der jetzigen Kandidatur wurde anfangs auf 36 Millionen angesetzt», sagt Semadeni, «und jetzt sind es bereits 60 Millionen.» Wer garantiere, dass die Entwicklung bei den Budgets für die Durchführung (2,8 Milliarden) und den Investitionen (rund 1 Milliarde) und der Sicherheit (410 Millionen) nicht ähnlich verliefen? «Die Befürworter sagen, es brauche Olympische Spiele, sie seien ein Projekt für die nächsten zwanzig, dreissig Jahre. Der Tourismus stecke in einer Krise. Sind aber Olympische Winterspiele das Heilmittel? Mir fehlt eine sachgemässe Analyse der Tourismuskrise und gezielte Massnahmen für den ganzen Kanton, nicht nur für St. Moritz und Davos.»
Im Roman «Durcheinandertal» lässt Friedrich Dürrenmatt den Gemeindepräsidenten klagen, «warum der liebe Gott so ungerecht» sei, warum andere Bergdörfer bevorzugt würden «und warum niemand zu uns kommt». Vielleicht liegt in dieser Klage ein Grund, warum der Abstimmungskampf so heftig geführt wird.
Der Bündner Tourismus befindet sich seit Jahren in der Krise, die Jugend zieht weg, der Strukturwandel wurde verpasst. Es herrscht eine Jetzt-oder-nie-Stimmung. In Olympischen Winterspielen sehen alle einen grossen Topf, aus dem man nehmen kann, was man sich gerade wünscht: neue Hotels, grössere Anlagen, schönere Bauten, schnellere Züge, bessere Verbindungen, breitere Strassen, mehr Umsatz, mehr Aufträge, mehr Arbeitsplätze, und das nicht nur für zwei Wochen, sondern für Jahrzehnte. In St. Moritz, bei einem Auftritt des Bundespräsidenten, forderte ein Mann im Publikum: «Wir brauchen jetzt einen Schub für den Tourismus! Ich glaube zwar nicht, dass wir von den IOC-Funktionären den Zuschlag erhalten. Aber es ist wichtig, dass wir kandidieren, weil wir uns dann bis zur Vergabe 2015 der Welt präsentieren können.» Und bei einem anderen Podium sagte jemand, Davos brauche neue Anlagen, neue Hotels, denn in Österreich sei alles viel moderner. «Wenn der Bund uns jetzt eine Milliarde anbietet, dann müssen wir sie doch nehmen.» Die Rechnung sei einfach: Ohne Olympia kein Geld. HC-Davos-Trainer Arno del Curto witzelte auf der Bühne: «Sonst nehmen es die Zürcher.»
Aber dann sagt Jon Pult, der Präsident der SP Graubünden, das seien Illusionen. «Viele Touristiker wissen nicht, wie weiter. Olympia ist ihr Strohhalm, an dem sie sich festhalten können. Sie erhalten eine fertige Antwort, ein Projekt für die Zukunft. An Olympia wird alles aufgehängt, was man in den letzten Jahren nicht geschafft hat.» Man könne nicht mit einem einzigen Projekt die ganze Wirtschaft des Kantons retten. «Das grösste Problem des Bündner Tourismus sind die hohen Preise. Und dieses Problem lösen wir nicht, indem wir St. Moritz noch berühmter machen.»
Zu den Besonderheiten des Abstimmungskampfs gehört, dass die bürgerlichen OlympiabefürworterInnen und die eher links-grünen OlympiagegnerInnen die Rollen getauscht haben. Die Bürgerlichen wünschen Impulsprogramme, Konjunkturspritzen und Subventionen aus Bern. Die Linken warnen vor Schulden, unkontrollierten Ausgaben und einem Finanzdebakel. Der Streit um Olympia wirbelt derzeit in den Bündner Bergtälern viel durcheinander. Kürzlich trat der bekannte Bündner Unternehmer Andreas Wieland dem Nein-Komitee bei, weil das Olympiaprojekt zu viele Fragen offen lasse. Auch der Laaxer Reto Gurtner oder der ehemalige Direktor von Schweiz Tourismus, Walter Leu, sprachen sich gegen Olympia aus. Jon Pult sagt, der Abstimmungskampf habe «Züge einer kollektiven Hysterie» bekommen. So einen Abstimmungskampf hätten sie ihr ganzes Leben noch nicht erlebt, erzählen viele. Drei Wochen vor der Abstimmung hat in Graubünden praktisch jeder und jede einen Entscheid gefasst. Die Ausgangslage ist knapp; bei einer soeben veröffentlichten Umfrage von Demoscope sprachen sich 45 Prozent gegen und 42 Prozent für die Olympischen Winterspiele aus.
Ueli Maurer reiste vergangene Woche noch einmal nach Davos, um ein letztes Mal die Werbetrommel für Olympia zu rühren. Als der Moderator den Bundespräsidenten ankündigte und sagte, ohne die Förderung von Ueli Maurer gäbe es kein Projekt Olympia, beeilte sich der Bundespräsident, sein Engagement herunterzuspielen. «Das ist eine masslose Überschätzung», sagte Maurer. Doch da bremste er zu spät. Vier Tage später forderte sein Parteikollege Christoph Mörgeli, Maurer das Olympiadossier zu entziehen.