Gesundheitswesen: «Ein abgekartetes Spiel»
Gegen die drohende Privatisierung der Neuenburger Klinik La Providence wird weiter gestreikt. Die Kantonsregierung gerät zunehmend in die Kritik.
Sarah Bochud ist wütend. Seit 79 Tagen streikt die Pflegefachfrau aus Neuenburg. Die Klinik La Providence, ihre Arbeitgeberin, soll an die Privatklinikgruppe Genolier verkauft werden – was einen Abbau der ArbeitnehmerInnenrechte zur Folge hätte. Dagegen wehren sich 22 Spitalangestellte gemeinsam mit den Gewerkschaften Syna und VPOD. Mitte November sind sie in den Streik getreten. Am vergangenen Dienstagmorgen ist wieder einmal ein Annäherungsversuch zwischen den Konfliktparteien gescheitert. «Klar zehrt der Streik an unseren Kräften. Aber ich bin mehr denn je überzeugt, das Richtige zu tun», sagt Bochud.
Soeben haben sie und ihre 21 Mitstreikenden beschlossen, den Vermittlungsvorschlag der Neuenburger Regierung abzulehnen (vgl. «Ein GAV als Probelauf» ). «Der Vorschlag ist inakzeptabel. Er missachtet unsere zentrale Forderung und hebelt den bestehenden Branchengesamtarbeitsvertrag ‹CCT santé 21› aus», sagt Bochud. Ihre Wut richtet sich zurzeit vor allem gegen die Neuenburger Regierung und deren Präsidenten Philippe Gnaegi von der FDP sowie die SP-Gesundheitsministerin Gisèle Ory. Die Kantonsregierung spielt nach Meinung der Streikenden eine unrühmliche Rolle bei der geplanten Privatisierung der Klinik.
Verschlechterungen akzeptiert
La Providence, die als privatrechtliche, nicht gewinnorientierte Stiftung organisiert ist, steht auf der Spitalliste des Kantons Neuenburg. Das heisst, sie zählt zu jenen Spitälern, die eine Service-public-Leistung erbringen und Subventionen erhalten. Im Gegenzug ist La Providence verpflichtet, sich an den «CCT santé 21» zu halten. Das will Genolier künftig nicht mehr. Die Privatklinikgruppe hat die jetzige Spitalleitung dazu angehalten, den Gesamtarbeitsvertrag aufzukündigen. Die Neuenburger Regierung hat das hingenommen und dabei erst noch in Aussicht gestellt, trotzdem weiterhin Subventionen zu zahlen.
«Das widerspricht der kantonalen Verordnung», sagt Chantal Hayoz. Die Gewerkschaftssekretärin der Syna hat an den jüngsten Verhandlungen teilgenommen und die Position der Streikenden vertreten. Auch sie kritisiert die Regierung scharf, die eigentlich als Vermittlerin agieren sollte: «Unsere Position hat sie nicht interessiert. Die Regierung hat die Interessen der Spitalleitung durchsetzen wollen. Es war ein abgekartetes Spiel.»
Für Hayoz ist der Fall La Providence ein Musterbeispiel, das über Neuenburg hinauswirkt. «Das Spitalwesen in der Schweiz wird zunehmend für private Interessen geöffnet. Das geht einher mit einem Abbau des Arbeitnehmerschutzes», sagt Hayoz und verweist auf die von Genolier kommunizierten «Ideen» für La Providence: Das Unternehmen wolle die Arbeitszeiten verlängern, die Sonntags- und Nachtarbeitszulagen abbauen, den Mutterschaftsurlaub kürzen sowie die Reinigung, die Wäscherei und die Küche auslagern. «Es ist fatal, dass die Regierung diese Entwicklung unterstützt», so Hayoz. Fatal sei auch das Signal an die Branche. Im Schweizer Gesundheitswesen herrscht Personalmangel. «Um junge Leute für den Gesundheitsberuf zu motivieren, braucht es gute und verlässliche Arbeitsbedingungen.»
Demo am kommenden Samstag
Sarah Bochud wusste noch im letzten Sommer kaum etwas über Gewerkschaften. Und an den «CCT santé 21» hatte sie nicht einen Gedanken verschwendet. Heute ist Bochud Gewerkschaftsmitglied und hat die letzten Wochen in einem beheizten Zelt statt in der Klinik verbracht. «Schon verrückt», sagt sie und schüttelt ihren Lockenkopf, «aber wie auch immer die Geschichte ausgeht, ich habe durch den Streik eine Erfahrung gemacht, die mich mein Leben lang prägen wird. Ich bin hingestanden und habe für meine Rechte gekämpft.» Das könne ihr niemand mehr nehmen.
Der Ausgang der Geschichte ist offen. Vorläufig streiken die 22 Angestellten von La Providence weiter und beharren auf der Gültigkeit des «CCT santé 21». Vergangene Woche hat die Spitalleitung gegenüber allen Streikenden die fristlose Kündigung ausgesprochen. Zurzeit ist unklar, ob die Kündigungen auch rechtskräftig sind. Sarah Bochud gibt sich kämpferisch: «Ich hoffe nun, dass wir am kommenden Samstag gemeinsam mit der Bevölkerung ein weiteres starkes Zeichen setzen können, wenn wir am Vormittag im Stadtzentrum demonstrieren werden.»
Nachtrag vom 21. Februar 2013 : Der Spitalstreik geht weiter
Mit einem Paukenschlag hat die Privatklinikgruppe Genolier auf das Verhandlungspatt zwischen der Neuenburger Klinik La Providence und den Gewerkschaften reagiert: Sie hat Ende letzter Woche die Klinik definitiv übernommen. «Für uns ist der Arbeitskampf definitiv beendet», erklärte Antoine Hubert, Delegierter von Genolier, diesen Montag vor der Presse. Ausschlaggebend für diesen Entscheid sei die positive Haltung der Regierung gewesen, so die Begründung von Genolier. Sie gibt damit zu, was die Spatzen längst von den Dächern gepfiffen hatten: Der Neuenburger Staatsrat hat als Vermittler nicht neutral agiert.
Dafür gibt es nun auch ein handfestes Anzeichen. Wie die Tageszeitung «Le Courrier» Ende letzter Woche enthüllte, war Regierungsratspräsident Philippe Gnaegi (FDP) bis 2009, das heisst bis zu seiner Wahl in die Kantonsregierung, Mitglied des Stiftungsrats der Klinik La Providence.
Derweil geht der Streik für den GAV «Santé 21» weiter, obwohl die 22 Streikenden fristlos entlassen worden sind. Mit einer Klage stellen sie die Rechtmässigkeit ihrer Kündigung infrage, sie machen geltend, dass sie mit dem Streik nur ihr verfassungsmässiges Recht wahrgenommen hätten. Zudem verlangen die Angestellten des Krankenhauses eine wirklich unabhängige Vermittlung durch eine aussenstehende Persönlichkeit, wenn nötig mithilfe von Bundesrat Johann Schneider-Ammann.
Auf politischer Ebene geht der Konflikt mit Interpellationen im mehrheitlich links stehenden Kantonsparlament weiter. Vielversprechend ist ein Vorstoss für ein Gesetz, das den Gesamtarbeitsvertrag «Santé 21» für alle subventionierten Unternehmen im Gesundheitsbereich für obligatorisch erklären will. Sollte das Gesetz angenommen werden, könnte es im Januar 2014 in Kraft treten, das heisst im Moment, wo sonst Genolier die Arbeitsbedingungen diktieren würde.
Der nationalen Bedeutung dieses Spitalstreiks entsprechend werden die Dachverbände der Gewerkschaften an die Internationale Arbeitsorganisation gelangen, wo die Schweiz wegen ihres mangelnden Kündigungsschutzes für GewerkschafterInnen gerügt worden ist (vgl. «Kein Schutz für GewerkschafterInnen »).
Helen Brügger
Nachtrag vom 11. April 2013 : Klage gegen die Schweiz
Die Gewerkschaften VPOD und Syna reichten bei der Internationalen Arbeitsorganisation ILO in Genf Klage gegen die Schweiz ein. Thema: Die Verletzung des Grundrechts auf Streik im Fall des Hôpital de la Providence in Neuenburg.
22 Streikende wurden im Februar fristlos entlassen, weil sie sich gegen die Übernahme des Spitals durch die Privatklinikgruppe Genolier und für die Einhaltung des Neuenburger Gesamtarbeitsvertrags (GAV) «Santé 21» gewehrt hatten. Die Regierung hatte Genolier zugesichert, sie müsse den GAV nicht anwenden. Die Entlassungen sind nach Ansicht der Gewerkschaften missbräuchlich: die Entlassenen hätten mit dem Streik ihr verfassungsmässiges Recht wahrgenommen.
Der mangelnde Kündigungsschutz im eidgenössischen Recht ist schon lange ein Thema bei der ILO. Bisherige Klagen der Gewerkschaften betrafen Sanktionen gegen gewählte PersonalvertreterInnen. Schon lange verlangt der Schweizerische Gewerkschaftsbund, dass Opfer einer gewerkschaftsfeindlichen Kündigung wieder eingestellt werden müssen. Im Fall La Providence geht es jetzt um die Garantie des Streikrechts.
Derweil verlangen die 22 Entlassenen noch immer eine Verhandlungslösung. Sie hoffen, dass nach den Wahlen Ende April frischer Wind ins Gesundheitsdepartement kommt. Falls eine linke Mehrheit ins Kantonsparlament einzieht, besteht die Chance, dass der GAV im Gesundheitsbereich für obligatorisch erklärt wird.
Helen Brügger