Stellungnahme der regierung: Ein GAV als Probelauf
Die Gesundheitsministerin Gisèle Ory (SP) über den Streik in Neuenburg sowie die Koexistenz zwischen öffentlichen und privaten Unternehmen.
WOZ: Gisèle Ory, die Streikenden haben am letzten Dienstag die Vermittlungsvorschläge der Regierung abgelehnt. Was bedeutet das nun?
Gisèle Ory: Unsere Vorschläge waren aus meiner Sicht der einzige noch mögliche Ausweg aus dem Arbeitskonflikt, der den Parteien erlaubt hätte, das Gesicht zu wahren. Was nun folgt, wird für beide Seiten extrem schwierig. Ich bedaure es ausserordentlich, dass die Streikenden unsere Vermittlung abgelehnt haben.
Woran ist sie gescheitert?
Unser Vorschlag hätte es erlaubt, einen neuen Vertrag für alle, auch für La Providence, auszuarbeiten: einen neuen GAV für alle, wie wir vorgeschlagen haben, oder einen revidierten «CCT Santé 21» für alle privaten und öffentlichen Spitäler, was die Streikenden wollten – die Unterschiede wären wohl minimal ausgefallen. Aber die Streikenden wollten alles oder nichts.
Eigentlich dachten Sie als Gesundheitsministerin von Anfang an daran, La Providence ins Netz der öffentlichen Spitäler einzugliedern. Wird diese Lösung nun wieder denkbar?
La Providence hat 2006 und 2008 zweimal Nein gesagt zu diesem Vorschlag. Das dritte Mal haben wir letztes Jahr angefragt. Da unterschrieb die Direktion gerade einen Vertrag mit der Genolier-Gruppe, der sie verpflichtete, exklusiv mit Genolier zu verhandeln.
Falls Genolier darauf verzichten würde, La Providence zu übernehmen, wäre die Eingliederung ins öffentliche Netz wieder eine Option?
Ich wage zum heutigen Zeitpunkt nicht mehr, daran zu glauben. Aber sicher, theoretisch besteht diese Möglichkeit. Falls Genolier auf den Exklusivvertrag zurückkommt oder darauf verzichtet, La Providence zu übernehmen, würden wir der Klinik einen neuen Vorschlag machen.
Sie haben in letzter Zeit viel Kritik einstecken müssen. Viele fragten sich: Weshalb bricht die SP-Gesundheitsministerin nicht mit der Regierungskollegialität und stellt sich auf die Seite der Streikenden?
Der Staatsrat hat nie Partei ergriffen. Das war die Voraussetzung, wenn wir vermitteln wollten. Unter diesen Umständen wäre es undenkbar gewesen, die Kollegialität zu brechen. Es hätte unseren Auftritt in den Verhandlungen zu sehr geschwächt.
Was halten Sie davon, wenn private Gruppen mit enormem Kapital wie etwa Genolier oder Hirslanden neu im Spitalwesen mitmischen?
Wir sind die Opfer des neuen Systems der Spitalfinanzierung, das private und öffentliche Spitäler ausdrücklich gleichstellt. Diese erzwungene Koexistenz wird uns noch viele Sorgen bereiten. Vor allem verlangt sie von allen Seiten, neue Lösungen zu finden. Als Regierung haben wir einige Karten in der Hand, die es auszuspielen gilt. Wir können über die Spitalplanung und über die Erteilung von Service-public-Mandaten an Private einiges beeinflussen, damit die Entwicklung nicht in Richtung eines Zweiklassenspitalsystems geht. Aber auch die Gewerkschaften sollten sich Gedanken machen.
In welche Richtung?
Mit einem gesamtschweizerischen Gesamtarbeitsvertrag, der für private Kliniken wie für öffentliche Spitäler gelten würde, könnte das Schlimmste vermieden werden. Auch deshalb bedaure ich es sehr, dass die Streikenden den Ausweg eines neuen Gesamtarbeitsvertrags, der auch für La Providence und Genolier gegolten hätte, abgelehnt haben. Die Ausarbeitung eines solchen Vertrags in unserem Kanton hätte zum Test werden können, zum kantonalen Probelauf für einen gesamtschweizerischen GAV.
Die Gesundheitsministerin
Die Gesundheitsministerin Gisèle Ory (56) ist Sozialdemokratin, Mitglied der Neuenburger Kantonsregierung und zuständig für das Gesundheits- und Sozialdepartement. Von 2003 bis 2009 war sie Neuenburger Ständerätin, bevor sie in den Staatsrat gewählt wurde.