Kenia: Neue Bezirke, neue Hoffnung

Nr. 9 –

In Kenia werden vor den Präsidentschaftswahlen vom 4. März Erinnerungen an die Gewalt von 2007 wach. Ein neues dezentrales Regierungssystem sorgt aber wenigstens auf Bezirksebene für sachbezogene Wahlen.

Die Zukunft liegt im Lokalen: Gouverneurskandidat Gabriel «Professor» Katana im Dorf Mariani.

An einem Samstagnachmittag rumpelt ein weisser Kleinlaster aus der Kreisstadt Kilifi eine Stunde lang über die steinige Piste bis ins Dorf Mariani. Er befördert neben einem Lautsprecher und einem Generator auch den «Professor». Der Laster hält. Bald kommt Musik aus dem Lautsprecher, und die Plastiksandalen der TänzerInnen gleiten über den weichen Sand auf dem Dorfplatz. Es herrscht Wahlkampf in Kenia.

Ein paar Jugendliche fragen nach Geld, weil sie wissen, dass Politiker, die kurz vor den Wahlen in ihr Dorf kommen, üblicherweise ihre Stimmen kaufen. Der «Professor» sagt, er wolle ihnen keines geben. Stattdessen verwickelt er sie in eine Diskussion darüber, wie sie mit ihren Motorradtaxis besser wirtschaften könnten. Professor Gabriel Katana, 58, ist willkommen in Mariani, denn er will «Hoffnung wiedererwecken» – so sein Slogan im Wahlkampf um den Posten eines regionalen Gouverneurs. Ein Posten, den es bis anhin nicht gab – eine neue Verfassung hat ihn möglich gemacht.

Das Ende von Nairobis Übermacht

Am 4. März werden die komplexesten Wahlen in der fünfzigjährigen Geschichte der ostafrikanischen Wirtschaftsmacht abgehalten; fünf Jahre nach dem Blutvergiessen, das die Folge einer gefälschten Präsidentschaftswahl war, und fast drei Jahre nachdem Kenia sich endlich, nach jahrzehntelangem Ringen, eine neue Verfassung gegeben hatte. Die folgenreichste Neuerung darin: Eine bisher übermächtige Zentralregierung überträgt grundlegende öffentliche Serviceleistungen sowie die lokale Prioritätensetzung an sogenannte Countys oder Bezirke. Diese neuen regionalen Verwaltungseinheiten bestehen aus einem kleinen Parlament mit Fiskalgewalt und werden von einem Gouverneur geführt.

«Die neue Verfassung hat wichtige Entscheide über lokale Aufgaben näher zu den Bürgern gebracht», sagt Abraham Rugo vom Institute of Economic Affairs (IEA), einem Thinktank in der Hauptstadt Nairobi. Mindestens fünfzehn Prozent der Staatseinnahmen müssen an die 47 neuen Bezirke transferiert werden, die zudem auch selbst Steuern erheben und eigene Wege der Finanzierung ihrer Budgets finden können. «Dadurch, dass die Bürger ihre lokalen Vertreter direkt wählen, die über die Verteilung der Ressourcen verfügen, haben sie mehr an Entscheidungen teil – ganz im Geist der neuen Verfassung, gemäss der das Volk besser repräsentiert sein soll.» Bisher wurden solche Entscheidungen im weit entfernten Nairobi getroffen. Für siebzig Prozent der WählerInnen war das neue dezentralisierte System der ausschlaggebende Grund, dass sie zum Verfassungsreferendum Ja gestimmt haben.

Diskutieren mit dem «Professor»

Einer dieser neuen Bezirke wird Kilifi an der kenianischen Nordküste sein. Das Dorf Mariani ist Teil davon. Es gibt keine Stromversorgung, kein fliessendes Wasser und schon gar keine asphaltierte Strasse. Mariani bietet nur einen oder zwei Jobs, für die Gehälter gezahlt werden, die eine Bank als Sicherheit für einen Autokredit akzeptieren würde. Daher hat niemand in Mariani ein Auto, und eine asphaltierte Strasse gehört trotz der schlechten Erschliessung des Dorfs im Moment nicht zu den Prioritäten der Leute: «Am dringendsten brauchen wir ein Krankenhaus mit Entbindungsstation», sagt etwa der 51-jährige Fronton Mwakai, Grundschullehrer von Mariani.

Seit fünf Monaten durchquert Professor Gabriel Katana den Bezirk Kilifi – etwa von der Grösse eines Viertels der Schweiz und mit 1,1 Millionen EinwohnerInnen – auf der Jagd nach Stimmen für seine Wahl zum Gouverneur. Dafür hat er – auch das eine Regelung der neuen Verfassung – den Professorenposten an der Pwani-Universität in Kilifi aufgegeben mitsamt komfortablem Gehalt und klimatisiertem Büro. Er hatte in Deutschland in theoretischer Physik promoviert und an einer Universität in der Hauptstadt Nairobi gelehrt, bis er durch einen Ruf an die Pwani-Universität «heimkehrte», an die Küste, wo er geboren wurde.

KenianerInnen halten eine enge Verbindung nach Hause: Wer es draussen in der Welt zu etwas gebracht hat, unterstützt die Daheimgebliebenen, so die moralische Verpflichtung. Gabriel Katana gilt als integer – ist einer der ersten Promovierten aus der Küstenregion, und obwohl er auf der politischen Bühne völlig unerfahren ist, sieht er in der neuen politischen Struktur seine Chance: Jahrzehntelang haben korrupte PolitikerInnen sich bereichert und Kilifis Potenzial vernachlässigt. Als Gouverneur, der erstmals lokal über die Verwendung von Staatsgeldern verfügen kann, würde er brachliegende Wirtschaftszweige beleben, das Schulsystem und die Infrastruktur verbessern und Talente fördern.

Der «Prof», so ist Katana inzwischen bei vielen der knapp 300 000 WählerInnen bekannt, hätte als Gouverneur alle Hände voll zu tun: Trotz weisser Sandstrände und Marineparks, die jedes Jahr Tausende TouristInnen anziehen, sind offiziell 71 Prozent der Menschen in Kilifi arm, eine der höchsten Raten in Kenia. Die Einnahmen aus den Hotels und Resorts gehen an ortsfremde Geschäftsleute, für die meisten Einheimischen bleibt einzig die niedrig bezahlte Saisonarbeit. Nur sieben Prozent aller SchülerInnen in Kilifi beenden das Gymnasium, und die Schulen des Bezirks rangieren regelmässig am unteren Ende der nationalen Leistungsskala. Titanvorkommen und die Verarbeitung von Cashewnüssen könnten neben dem Tourismus den BürgerInnen von Kilifi zu einem besseren Leben verhelfen. Vor allem, weil im neuen dezentralen Regierungssystem die Entscheidungen über die Bereiche Landwirtschaft, Handel und lokale Infrastruktur den Bezirken übertragen werden.

Sachpolitik auf Facebook

«Die Dezentralisierung hat definitiv viele qualifizierte Bewerber um die neuen Posten angezogen und nicht nur die üblichen Berufspolitiker», sagt Abraham Rugo vom IEA. «Dieses System bringt die Leute auf lokaler Ebene dazu, sachbezogener zu denken und zu wählen.» Und zu diskutieren: Die in Kenia bisher üblichen Wahlkampagnen und Debatten, die oft entlang ethnischer Gräben geführt werden, sind nun zunehmend begleitet von sachpolitischen Diskussionen. Zur Sprache kommen darin Grundrechte, die Frage nach einer kritischen Begleitung der Umsetzung der neuen Verfassung, nach der Begutachtung von Parteiprogrammen – und immer wieder auch, wie die in der neuen Verfassung verankerten Prinzipien Kenia weiterbringen können. Viele dieser Diskussionen finden über soziale Medien wie Facebook statt (auch wenn dies der wachsenden Mittelklasse vorbehalten ist), in denen AdministratorInnen nicht müde werden, auf die Respektierung der Meinung anderer zu bestehen. Auf von KenianerInnen entwickelten Internetplattformen wird das Netz nach Hassreden im Vorfeld der Wahlen durchforstet, und BürgerInnen können Unregelmässigkeiten im Wahlprozess melden. Hassreden, in denen Volksgruppen gegeneinander aufgehetzt wurden, gelten als eine der Ursachen für das Ausmass der Gewalt vor fünf Jahren. Aus dieser Erfahrung heraus ist ihre Ächtung nun auch in der Verfassung verankert. Ein Volk hat sich eine neue Verfassung gegeben und übt sich jetzt in Demokratie.

Unbeantwortete Fragen

Im Gegensatz zu Gabriel Katana in Kilifi, dessen Facebook-Seite gerade mal 125 Mitglieder zählt, hat Seronei Chelulei Cheison seine Kandidatur als Gouverneur besser vorbereitet: Die Leute im Bezirk Nandi im Westen Kenias kennen den habilitierten Naturwissenschaftler von öffentlichen Vorträgen und einer wöchentlichen Radiosendung, die der derzeit in Deutschland Lebende seit 2009 über Skype selbst moderiert. «Politik wird darin strikt vermieden», sagt der Gouverneurskandidat. «Wir diskutieren über Bildung, Frauenförderung, Umweltschutz oder Kultur – wenn möglich mit Bezug zu unserer Tradition. Das Radio gibt mir eine starke Identität.» Seine täglichen Kommentare auf mehreren Facebook-Seiten, in denen er unter anderem seine Pläne als Gouverneur bekannt gibt, werden von Dutzenden gelesen und debattiert. «Die jungen Leute weigern sich, auf lokaler Ebene nach dem traditionalistischen Kriterium zu wählen, welcher Volksgruppe man angehört», ist Cheison überzeugt. «Sie wollen Führungspersönlichkeiten mit Visionen.»

Wo sie am Wahltag dann tatsächlich ihr Kreuz machen, bleibt abzuwarten. Kenia hat bisher kaum öffentliche Aufklärung über die Dezentralisierung betrieben – viele WählerInnen haben keine Ahnung, was die Aufgaben einer Gouverneurin oder der Bezirksverwaltung sind. Eine mit der Koordinierung betraute Übergangsbehörde hat wichtige Fragen, etwa wie die Aufgaben der zwei Verwaltungsebenen genau verteilt sind, bislang unbeantwortet gelassen.

Bereits zwei Wochen nach der Wahl müssen die lokalen Parlamente vereidigt werden – und was dann? Abraham Rugo vom IEA befürchtet, dass ohne gezielte Strategien die in Kenia hartnäckige Korruption nahtlos auf das lokale System übertragen wird, das laut Rugo zudem viel zu teuer sein könnte. Sollte die Dezentralisierung erfolgreich sein, haben die Bezirke eine echte Chance, den KenianerInnen ein besseres Leben zu ermöglichen. Sollte sie scheitern, droht Kenia eine noch stärkere ethnische Teilung.

Vor der Präsidentschaftswahl : Umstrittene Favoriten

Nach den umstrittenen Wahlen im Dezember 2007 starben etwa 1200 Menschen bei Gewaltausbrüchen, eine halbe Million musste fliehen. Die neue kenianische Verfassung von 2010 soll helfen, zukünftig einige der Ursachen für diese Gewalt zu vermeiden: Eine transparente Umgestaltung der Justiz hat begonnen – BewerberInnen um die obersten Richterämter wurden tagelang vor laufenden Fernsehkameras interviewt, während solch entscheidende Positionen früher unter zweifelhaften Umständen besetzt wurden. Der oberste Richter ist weithin für seine Integrität geachtet. Die Allmacht des Präsidenten ist beschnitten, die bisher zentralistische Autorität wird nach den Wahlen am 4. März regional besser verteilt. Die massive illegale Aneignung von Land, ein grosses Problem in Kenia, ist hingegen noch nicht gestoppt.

Acht BewerberInnen um das Präsidentschaftsamt stehen zur Wahl. Einer davon ist der Sohn des ersten Präsidenten Jomo Kenyatta: Uhuru Kenyatta ist im Zusammenhang mit der Gewalt von 2007/08 am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag angeklagt. Sollte er gewinnen, könnte Kenia international isoliert werden. Der zweite Favorit ist Premierminister Raila Odinga, den viele für den Gewinner der Wahl 2007 halten.

Das Risiko erneuter Gewalt ist real: Noch immer mobilisieren PolitikerInnen ihre AnhängerInnen entlang ethnischer Grenzen. Zudem stehen die durch die Dezentralisierung erstarkten regionalen Machtzentren auf dem Spiel, was das Risiko von lokaler Gewalt verschärft. Die grösste Gefahr besteht darin, dass Zweifel an der Transparenz der Wahlkommission aufkommen könnten: Bei einem knappen Ergebnis bei der Präsidentschaftswahl könnte das zur Eskalation führen.

Im ersten Wahlgang kann nur gewinnen, wer mehr als die Hälfte aller Stimmen und mindestens 25 Prozent der Stimmen in der Mehrzahl der Countys erhält. Eine allfällige Stichwahl zwischen den zwei Erstplatzierten würde am 10. April stattfinden, bei einer Wahlanfechtung am 1. Mai. Mit 14,2 Millionen haben sich kaum zwei Drittel aller Wahlberechtigten für diese Wahlen registriert.
Anja Bengelstorff