Kenia: Wunsch und Realität
Der Anschlag auf ein Einkaufszentrum liess die KenianerInnen erst näher zusammenrücken. Mittlerweile ist vor allem mehr Repression zu spüren.
Auf den ersten Blick schien die kenianische Hauptstadt Nairobi schon kurz nach dem Anschlag vom 21. September 2013 auf das Westgate-Einkaufszentrum zur Normalität zurückgefunden zu haben. Die Septemberlöhne der Angestellten wurden ausbezahlt, und AutobesitzerInnen konnten ihre Tanks wieder auffüllen. So erreichten Anfang Oktober die Staus auf den Strassen der Stadt wieder Rekordlängen. Öffentliche Plätze und Geschäfte waren voller Menschen – fast als hätte es die rund 70 Toten und über 200 Verletzten nie gegeben.
Doch der flüchtige Blick trog. Noch immer stand die Bevölkerung unter Schock, bedrängt vom tief sitzenden Gefühl verlorener Sicherheit und aufgewühlt durch die Sorge, es könnte sich Ähnliches wiederholen. «Wir werden die Städte Kenias in Friedhöfe und Blutbäche verwandeln», soll die radikal-islamistische Schabab aus dem Nachbarland Somalia verkündet haben. Die Miliz bekannte sich zu dem Anschlag – er sei als Vergeltung für Kenias militärisches Engagement in Somalia zu verstehen.
Viele negative Signale
«Das Attentat ist ein Signal dafür, dass unser Land nicht mehr die Insel des Friedens ist, die es jahrzehntelang war», sagt der Journalist und Blogger Patrick Gathara. Allerdings gab es schon viele solcher Signale: Bereits vor fast fünfzehn Jahren starben bei einem Anschlag auf die US-Botschaft in Nairobi 270 Menschen, Tausende wurden verletzt. Seit kenianische Truppen im Oktober 2011 in Somalia einmarschiert sind und sich der Mission der Afrikanischen Union in Somalia (Amisom) im Kampf gegen al-Schabab angeschlossen haben, verübten die Miliz oder ihre SympathisantInnen etwa fünfzig Anschläge auf Menschenmengen, Kleinbusse, Restaurants oder Polizeistationen, vor allem im Nordosten Kenias, aber auch in den Grossstädten Nairobi und Mombasa.
Der Anschlag auf das Westgate, in seinem Protz ein Symbol des wirtschaftlichen Aufschwungs Kenias, hatte jedoch eine andere Dimension. Das Einkaufszentrum liegt in einem begüterten Teil der Hauptstadt, so traf es zum ersten Mal die wohlhabende Mittel- und Oberschicht Kenias mitten ins Herz.
Kenia ist ein Land, in dem sich die Bevölkerung wie etwa nach den Gewaltausbrüchen nach den Wahlen von 2007 immer wieder aufrafft. So auch nach dem Westgate-Attentat: Spontan und ohne viele Worte verschenkte die Bevölkerung Decken, Nahrung und Geld, während das kenianische Rote Kreuz landesweit provisorische Blutspendezentren in öffentlichen Parks und an Strassenecken einrichtete. Tausende kamen, um zu helfen, viele liessen sich dafür von ihrer Arbeit freistellen. Beratungsstellen für Traumatisierte und ihre Angehörigen öffneten kostenfrei ihre Türen.
So wurde für wenige Wochen zelebriert, was sich die Menschen so sehr wünschen: Einigkeit und Solidarität. Doch schon kurze Zeit später folgte die Ernüchterung: Die Regierung verheimlichte, was während der vier Tage der Belagerung des Einkaufszentrums wirklich passiert war. Inkompetenz und mangelnde Kommunikation zwischen Behörden hatten dazu geführt, dass sich kenianische Einsatzkräfte im Einkaufszentrum gegenseitig beschossen. Und so war das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der Obrigkeit wieder da.
Kurz nach dem Anschlag erhöhten die ParlamentarierInnen ihre eigenen Entschädigungen. Streikende Lehrerinnen und Ärzte aber gingen erneut leer aus. Die Bevölkerung muss Steuererhöhungen auf Grundnahrungsmittel erdulden und mit ansehen, wie ihre Regierung das neue dezentrale Regierungssystem – bei dem grundlegende öffentliche Serviceleistungen und die lokale Prioritätensetzung an die Bezirke abgetreten werden sollten (siehe WOZ Nr. 9/13) – nicht finanzieren kann. In dieser Atmosphäre vertieft sich nicht der Zusammenhalt, sondern der Graben zwischen Arm und Reich.
Bis heute ist unklar, wie viele Angreifer tatsächlich im Einkaufszentrum waren. Auch kleinste Informationshäppchen gaben die Behörden nur auf Druck preis. Die immer wieder versprochenen Untersuchungsausschüsse weckten nur noch Hohn und Zynismus, waren sie doch bisher immer nur eine Taktik, um die Schuldigen zu schützen. Resignation setzte ein: hinnehmen und abhaken; den Mund halten.
Als zwei Journalisten für einen privaten Fernsehsender eine Chronologie der Ereignisse zusammenstellten, drohte der Polizeichef: Der Bericht grenze an Volksverhetzung und lasse Patriotismus vermissen. Die Vorladung ins Polizeipräsidium zog er Stunden später immerhin wieder zurück.
JournalistInnen in ständiger Angst
Die Regierung nutzte die Gunst der Stunde, um unbequeme Medienberichterstattung zu gängeln und mit einem neuen restriktiven Mediengesetz die eigene Inkompetenz zu vertuschen. Verstösse gegen das Verbot von «Propaganda, Aufwiegelung zu Gewalt, Volksverhetzung» werden mit hohen Geldstrafen belegt. Vage formuliert, geben die Bestimmungen dem Staat grossen Handlungsspielraum und halten JournalistInnen so in ständiger Angst. Ein weiterer Gesetzesentwurf, den das Parlament jedoch ablehnte, sah eine grössere Kontrolle über Nichtregierungsorganisationen vor.
«Der Westgate-Anschlag hat Kenia nicht radikal verändert», sagt Blogger Patrick Gathara. «Eher haben sich die vorher schon sichtbaren Trends zu mehr staatlicher Kontrolle und Einschränkung der Meinungsfreiheit intensiviert.»