Ulrike Ottinger: «Ich will in keine Schublade passen»

Nr. 22 –

Die in Berlin lebende Filmemacherin, Malerin und Fotografin Ulrike Ottinger wird am 6. Juni siebzig Jahre alt. Mit ihrem neusten Spielfilm, «Unter Schnee», eröffnet sie die zweite Auflage des Festivals «Bildrausch – Filmfest Basel».

Traumhafte Realität im nördlichen Zentraljapan: «Unter Schnee», der aktuelle Film von Ulrike Ottinger. Foto: Real Fiction

Als Ulrike Ottinger 1984 ihren Film «China – die Künste, der Alltag» drehte, fuhr sie im Zug kreuz und quer durch das Land. «Morgens um vier wurde man mit militärischer Marschmusik geweckt, musste im Speisesaal antreten und bekam dann eine äusserst scharfe Nudelsuppe serviert.» Danach, schmunzelt die Filmemacherin, sei man wach gewesen.

Seit dieser ersten Reise nach China ist der asiatische Kontinent zum geografischen Mittelpunkt von Ottingers künstlerischem Schaffen geworden. Die dabei entstandenen Reisedokumentationen sind ebenso eigenwillig wie die Spielfilme. Und wie aus ihrer acht Stunden dauernden Dokumentation über die mongolische Taiga hat die Künstlerin auch aus dem Stoff zu ihrem letzten Spielfilm, «Unter Schnee», noch ein Hörspiel gestaltet.

Busse aus der Schweiz

Ihr vielseitiges künstlerisches Talent hat Ottinger von ihren Eltern geerbt. Da ihre Mutter Maria Weinberg Jüdin ist und die Nürnberger Rassengesetze Mischehen verbieten, kommt Ulrike am 6. Juni 1942 unehelich zur Welt. Ihren Vater Ulrich Ottinger lernt sie erst nach dem Krieg kennen, als sie schon drei Jahre alt ist und die Eltern endlich heiraten können. «Er hat von Anfang an mit mir gezeichnet», erinnert sie sich. Der Vater, eröffnet ein Dekorationsgeschäft und schmückt in Süddeutschland und der Nordschweiz die Decken und Wände von Kinos mit mythologischen oder abstrakten Motiven aus. Ulrike begleitet ihn oft dabei.

Ihre Heimatstadt Konstanz liegt damals in der französischen Besatzungszone. Ulrikes Mutter arbeitet als Übersetzerin für die Militärverwaltung. Tochter Ulrike besucht sonntags immer deren Filmmatineen, sieht Klassiker wie Max Ophüls’ «Kinder des Olymp» – natürlich im französischen Original. Als sie das erste Mal einen Film in deutscher Sprache sieht, meint sie irritiert: «Das ist gar kein richtiger Film – die sprechen ja Deutsch!»

Mit zwanzig zieht es Ottinger dann nach Paris. Dort will sie frei malen und bei Johnny Friedländer, einem der grossen Radierer der Zeit, die Radiertechnik erlernen. Sie wird bald Meisterschülerin und bildet in dessen Atelier andere SchülerInnen mit aus. Dreimal in der Woche geht sie in die Cinémathèque française, entdeckt für sich das expressionistische Kino, die Filme von Luis Buñuel und die Nouvelle Vague. Ein erstes eigenes Drehbuch entsteht.

1969 kehrt Ottinger nach Konstanz zurück, gründet eine Galerie und betreibt einen Filmklub nach dem Vorbild der Pariser Cinémathèque. Neben Filmklassikern aus aller Welt zeigt sie die ersten «neuen deutschen» Filme von Rudolf Thome, Werner Schroeter und anderen. Dieses Angebot ist so einzigartig in der Region, dass zu den Vorstellungen auch Busse voller junger FilmenthusiastInnen aus Zürich und Basel kommen.

New York oder Westberlin?

Eigentlich will Ottinger weiter nach New York, doch der Zufall bringt sie 1973 nach Westberlin. Sie ist so begeistert von dieser Stadt, die noch von Ruinen und Brandspuren des Kriegs gezeichnet ist, dass sie sich sofort eine Wohnung sucht und bleibt. In stundenlangen Spaziergängen streift sie durch die entlegensten Gegenden und fotografiert die Industriebrachen in der geteilten Stadt. In Kreuzberg geht die Mauer direkt durch die Wohngebiete. «Das sind doch alles Bilder, die was erzählen. An all diesen Orten habe ich gedreht – und das wurde dann die Berlin-Trilogie.»

Westberlin ist zu jener Zeit eine Hochburg nicht nur von Lesben und Schwulen, sondern auch der Frauenbewegung. Doch obwohl Ottinger voll und ganz hinter deren Forderungen steht, beteiligt sie sich nicht an den Demonstrationen. «Für mich war das nicht so wichtig, denn ich habe schon immer meinen eigenen Kopf gehabt.» Auch mit der Lesbenbewegung hat die Regisseurin, die mit der Hauptdarstellerin ihrer Filme, Tabea Blumenschein, zusammenlebt, wenig am Hut. «Das war für mich etwas sehr Persönliches, und ich habe nicht eingesehen, dass ich dafür in irgendeinen Klub eintreten muss.»

Ottinger dreht 1978 die skurrile Komödie «Madame X – eine absolute Herrscherin», die ihren unkonventionellen Blick auf die Frauenbewegung betont. Frauen aus verschiedenen Ländern und den unterschiedlichsten Berufen folgen darin dem Ruf einer geheimnisvollen Piratenkönigin, segeln mit ihr auf einer Dschunke davon – und kehren in anderen Rollen zurück. Die Goethe-Verehrerin etwa wird eine Rockerbraut in Leder. «Wir haben mit viel Ironie neue Rollenmodelle erspielt. Das war doch ein wichtiges gesellschaftliches Anliegen.» Damit sticht Ottinger in ein Wespennest.

«Madame X» im Fernsehen

Da es damals nur zwei Fernsehprogramme gibt, sitzt bei der Ausstrahlung des Films im ZDF zumindest die halbe deutsche Nation vor dem Bildschirm. Waschkorbweise treffen bei der Sendeanstalt Leserzuschriften ein. Die einen loben den Film, die anderen beschimpfen ihn als ketzerisch, manche sogar als faschistisch, da er die Frauen auch grausam und machtbesessen zeige. Vor dem Kino Bali in Berlin wird Ottinger von empörten Zuschauerinnen regelrecht verprügelt. Ihrer Ansicht nach hatten sie nicht verstanden, dass man Gesellschaftskritik statt direkt auch in einer Allegorie ausdrücken kann. «Damals war der Inhalt alles, und die Form war nichts. Damit war ich nie einverstanden.»

Ottinger, mit Wurzeln in der bildenden Kunst, kleidet ihre grell geschminkten DarstellerInnen gern in schrille Fantasiekostüme, Sprache und Gestus wirken häufig stilisiert. Doch wie exzentrisch ihre Filme auch daherkommen, sie bilden immer auch ein Stück reale Kulturgeschichte ab, die Ottinger akribisch recherchiert. Und so erzählt ihre Dokumentation «Exil Shanghai» über jüdische EmigrantInnen in China nicht nur deren individuelle Schicksale, sondern auch die Geschichte der jüdischen Diaspora im Land. «So verstehe ich Film: als Spiegel der Gesellschaft.»

Filmemachen ist Ottingers Passion, auch wenn sie sich mittlerweile als bildende Künstlerin und Fotografin, Hörspielautorin sowie Theater- und Opernregisseurin einen Namen gemacht hat. Als einzige deutsche Regisseurin realisiert sie alle ihre Filme in Eigenverantwortung – von der Idee und Konzeption über die Regie bis hin zu Kamera und Produktion. Bei der Berlinale 2012 hat sie für ihr Lebenswerk den schwul-lesbischen Teddy Award erhalten. Sie selbst hat um ihre sexuelle Orientierung von jeher so wenig Aufhebens gemacht wie um ihre jüdische Herkunft. «Ich bin nicht jemand, der so dieses Herzeleid ausbreitet. Das ist mir unangenehm», sagt sie. «Ich will in keiner Schublade sein – weder in der feministischen noch der lesbischen noch der jüdischen.»

«Unter Schnee» von Ulrike Ottinger wird am Freitag, 1. Juni 2012, um 18.30 Uhr im Stadtkino Basel vorgeführt, die Regisseurin ist anwesend. 
Vom 2. bis 10. Juni 2012 zeigen 3sat und ZDF Kultur einige ausgewählte Filme von Ulrike Ottinger. www.ulrikeottinger.com

«Bildrausch – Filmfest Basel» : Märchenhaft

«Das Herz eines Festivals soll grösser sein als seine eigene Grösse» – dies ist das Kredo des Bildrausch-Festivals in Basel, das letztes Jahr von Nicole Reinhard und Beat Schneider gegründet wurde. Es dauert drei Tage und zeigt eine hochkarätige Auswahl von internationalen Festivalfilmen, die es nicht in die regulären Schweizer Kinos schaffen. Die Vorführungen werden ergänzt mit Diskussionen, Interventionen und Begegnungen.

Den Auftakt macht der neue Film von Ulrike Ottinger. «Unter Schnee» ist eine filmische Reise nach Japan: Ottinger begibt sich mit zwei Kabuki-Darstellern ins Schneeland des nördlichen Zentraljapan und verwebt Vorgefundenes mit Imaginiertem. «Unter Schnee» ist eine märchenhafte Erzählung, angesiedelt zwischen ethnografischer Dokumentation und poetischer Erkundung des Fremden.

Von den zwölf Dokumentar-, Spiel- und Essayfilmen kommen gleich drei Beiträge aus Österreich: Sebastian Meises grossartiger Spielfilm «Stillleben» besticht durch klar durchkomponierte Bilder und eine Nüchternheit, die fast wehtut. Meise zeigt meisterhaft, wie die Fassade einer perfekten Familie in einer Nacht zerbricht, als herauskommt, dass der Vater pädophil ist. Auch Ruth Maders semidokumentarischer Film «What Is Love» und Michael Glawoggers Dokumentarfilm «Whore’s Glory» sind starke Festivalbeiträge.
Silvia Süess

Bildrausch in: Basel, Stadtkino, Fr, 1., bis So, 3. Juni 2012. www.stadtkino.ch