Asylabschreckung: Der Tote aus dem Container
Es kam zu Bränden und Messerstechereien, jetzt ist ein Flüchtling getötet worden: In Landquart hausen psychisch labile Asylsuchende unbetreut in Containern. Die Behörden nehmen weitere Tote in Kauf.
Vor zwei Wochen veröffentlichte die Bündner Kriminalpolizei folgende Meldung: «In der Nacht auf Donnerstag, den 14. März 2013, ist ein 32-jähriger Asylsuchender des Minimalzentrums Waldau verletzt aufgefunden worden. Der Mann verstarb kurze Zeit später im Spital. Die Kantonspolizei Graubünden geht von einem Tötungsdelikt aus. Im Laufe des Tages wurden zwei Personen, ebenfalls Asylsuchende aus dem Minimalzentrum, festgenommen.»
Es ist die jüngste in einer ganzen Reihe von Polizeimeldungen über das Minimalzentrum in Landquart. Mitte Januar 2013 wurden bei einer Messerstecherei zwei Asylsuchende verletzt. Im Juni 2012 brannten zwei Container vollständig aus. Bereits im Oktober 2010 waren bei einer Messerstecherei zwei Asylsuchende verletzt worden. Ein erstes Mal war die Containersiedlung im Juni 2006 vollständig abgebrannt – das Minimalzentrum war damals erst drei Monate in Betrieb.
«Persönlich betrachte ich das Minimalzentrum Waldau als sehr gute Einrichtung», sagte Heinz Brand letzten Sommer in einem Interview dem «Tages-Anzeiger». Der heutige SVP-Nationalrat leitete jahrelang das Bündner Migrationsamt. In dieser Funktion war er massgeblich am Aufbau eines neuen kantonalen Unterbringungskonzepts für Asylsuchende beteiligt. Das Minimalzentrum Waldau ist ein Teil dieses Konzepts. Seine Funktion besteht darin, «dissoziale Elemente» zu isolieren, wie es Brand ausdrückt.
Immer wieder wurde gewarnt
Asylsuchende, die gegen die Hausordnungen in den Unterkünften verstossen, werden nach Waldau zwangsversetzt – in eine Containersiedlung am Stadtrand von Landquart. Dort bleiben die Asylsuchenden sich selbst überlassen. Die «Betreuung» besteht aus einer täglichen Barauszahlung von 7.30 Franken Nothilfe am späten Nachmittag.
Das Minimalzentrum Waldau ist das einzige seiner Art in der Schweiz.
Als die WOZ das Minimalzentrum im Dezember 2011 besuchte, lag kniehoher Schnee vor den Baracken. Zwei Asylsuchende waren damals dort untergebracht, nur einer davon war anwesend. «Eine Schaufel, um den Schnee wegzuräumen, haben wir hier nicht», sagte der Algerier im Container 1, auf einer Holzbank sitzend. Der «Aufenthaltsraum» ist zweieinhalb Meter breit und sechs Meter lang, der «Schlafraum» weist dieselben Masse auf. In der Ecke steht ein alter Herd, der Plastikboden ist von Flecken übersät, die Wände sind kahl. «Mein derzeitiger Mitinsasse ist psychisch sehr labil und neigt zu Gewalt, besonders unter Alkoholeinfluss», erzählte der Algerier. Er habe darum gebeten, nicht im selben Container übernachten zu müssen. Vergeblich. «Ich habe schon ganze Nächte im Freien verbracht, wandernd, um mich selbst zu schützen.»
Erst kürzlich war auch eine Journalistin der Westschweizer Zeitung «Le Temps» im Minimalzentrum. Sie traf auf einen jungen Somalier, der kurz zuvor durch eine Messerattacke verletzt worden war, offenbar von einem Mitinsassen, «der bekanntermassen an psychischen Problemen litt» und durch «Gewalttätigkeiten» auffiel.
«Ich bin nicht überrascht über den jetzigen Todesfall. Es ist ja zuvor schon zu Vorfällen mit lebensgefährlichen Körperverletzungen gekommen», sagt Gustav Ott. Der Arzt aus Domat/Ems ist Präsident des Vereins Hilfe für Asylsuchende, der sich im Bündnerland seit einem Vierteljahrhundert für Asylsuchende engagiert. Seit Jahren hätten sie und andere Organisationen wie Amnesty International bei den Behörden interveniert und eine Schliessung des Minimalzentrums verlangt. «Das Amt für Migration und Zivilrecht verlegt immer wieder Personen mit beträchtlichen psychischen Problemen ins Minimalzentrum, anstatt ihnen eine korrekte psychologische Betreuung zu bieten», sagt Ott.
Für Guido Stirnimann vom Verein Miteinander Valzeina, der sich ebenfalls für Asylsuchende engagiert, ist klar, dass die Bündner Behörden eine Mitverantwortung an den gewalttätigen Vorfällen im Minimalzentrum tragen, die nun in einem Todesfall gipfelten. «Höchstwahrscheinlich wäre dieser Mensch noch am Leben, wenn nicht der Kanton Graubünden für seine Unterbringung zuständig gewesen wäre», sagt Stirnimann. In anderen Kantonen gebe es aus guten Gründen keine solchen Minimalzentren.
Wegen Bagatellen in die Waldau
Die WOZ kennt die Identität und die Geschichte des Verstorbenen: Feras Farees Abedal Motaleeb kam vor 32 Jahren in Bagdad als Sohn von palästinensischen Flüchtlingen zur Welt. Vor sechs Jahren verliess er sein Geburtsland, weil er und seine Familie zunehmend bedroht und verfolgt wurden. Im Sommer 2008 erreichte er schliesslich die Schweiz und stellte ein Asylgesuch. Nach einer Wartezeit von mehreren Jahren erhielt Farees einen F-Ausweis und wurde vorläufig aufgenommen – das bestätigen auf Anfrage auch die Bündner Behörden.
Im Prättigau arbeitete Farees vor zwei Jahren mehrere Monate in einer Bäckerei. Er verlor diese Stelle aber wieder, nachdem er für eine längere Zeit seine engsten Verwandten in Schweden besucht hatte, wo diese als anerkannte Flüchtlinge leben. Zurück in der Schweiz, war er im Transitzentrum Davos untergebracht.
Weshalb genau Farees ins Minimalzentrum verlegt wurde, wollen die Behörden wegen «laufender polizeilicher Ermittlungen» nicht bekannt geben. Die Zuweisung sei «zwecks Durchsetzung einer Sanktionierung» erfolgt, heisst es bloss. Auch zu den Umständen, die zum Tod von Farees geführt haben, schweigen die Behörden.
Recherchen ergeben: Der Palästinenser wurde nach einer Schlägerei zunächst ins Transitzentrum Cazis verlegt. Dort widersetzte er sich anscheinend einer Weisung, seine Zigarette auszulöschen, worauf er ins Minimalzentrum Waldau abgeschoben wurde. Im Minimalzentrum waren zwei weitere Asylsuchende untergebracht, ein Algerier, der seit siebzehn Jahren in der Schweiz lebt, und ein Libanese palästinensischer Herkunft.
Die Bündner Staatsanwaltschaft geht nach wie vor von einem Tötungsdelikt aus. Die beiden Mitinsassen sind bisher die einzigen Tatverdächtigen. Der abschliessende Obduktionsbericht liegt noch nicht vor.
Bis Ende 2005 war im Kanton Graubünden das Sozialdepartement für die Betreuung der Asylsuchenden zuständig. Durch eine Verwaltungsreform änderte sich das damals. Der Verfahrens- sowie Betreuungsbereich wurde dem Amt für Polizeiwesen und Zivilrecht (APZ) übertragen – und damit in den Zuständigkeitsbereich von Heinz Brand, dem damaligen Leiter des APZ.
Zwei Jahre nach dieser Übernahme veröffentlichte das APZ eine Medienmitteilung. Das Schreiben bringt auf den Punkt, was das Ziel des «neuen Unterbringungskonzepts» ist: der «konsequente Vollzug». In der Beamtensprache heisst das: «Im Hinblick auf die Bekämpfung von Straftaten und Missbräuchen durch Asylsuchende sowie zur Steigerung der öffentlichen Sicherheit hat der Kanton Graubünden in den letzten zwei Jahren zusätzliche Anstrengungen unternommen.»
Brand sieht «Zweck erfüllt»
Die Realität ist das Minimalzentrum Waldau. Die Realität ist auch, dass heute «im Bereich der Asylbetreuung keine ausgebildeten SozialarbeiterInnen angestellt sind», wie Marcel Suter, der Nachfolger von Heinz Brand, auf Anfrage bestätigt. Die Realität ist ferner, dass der Kanton Graubünden über fünfzig Prozent der Nothilfegelder des Bunds für abgewiesene Asylsuchende als Reserven aufbaut, statt sie für die Betreuung auszugeben. Die Reserven betrugen gemäss einem Bericht der «Südostschweiz» im Sommer 2012 1,9 Millionen Franken.
Zurzeit ist das Minimalzentrum Waldau wegen der laufenden Ermittlungen geschlossen. Sobald diese beendet sind beziehungsweise das Gebäude von den Ermittlungsbehörden wieder freigegeben ist, wird es wieder in Betrieb genommen, wie Marcel Suter bestätigt. In der «Südostschweiz» kommentierte er den Todesfall: Dass es vereinzelt zu solchen tragischen Fällen komme, sei kaum zu verhindern.
Heinz Brand hat auf die Frage, ob er das Minimalzentrum Waldau «persönlich» noch immer als «sehr gute Einrichtung» betrachte, wie folgt geantwortet: «Im Minimalzentrum konnten bislang alle schwierigen und dissozialen Asylsuchenden, die – unter anderem auch aus Sicherheitsgründen – von den übrigen Asylsuchenden getrennt werden mussten, über kürzere oder längere Zeit untergebracht werden. Das Minimalzentrum hat deshalb bis heute seinen Zweck durchaus erfüllt.»
Nachtrag vom 11. Dezember 2014: Minimalzentrum Landquart: Unterlassene Hilfe?
Im März 2013 wurde ein 31-jähriger irakischer Flüchtling im Minimalzentrum in Landquart getötet (siehe Hauptartikel weiter oben). Letzte Woche fand der Prozess um das Tötungsdelikt statt. Das Bezirksgericht verurteilte einen 35-jährigen Palästinenser, der ebenfalls im Minimalzentrum untergebracht gewesen war, wegen vorsätzlicher Tötung zu neun Jahren Haft. Er habe unter Alkoholeinfluss nach einem Streit mit einem Ast auf den Iraker eingeschlagen und diesem tödliche Verletzungen zugefügt.
Das Tötungsdelikt und der Strafprozess offenbaren zwei brisante Punkte. Erstens haben die Bündner Behörden in Kauf genommen, dass es im Minimalzentrum zu Todesfällen kommen kann. «Dort waren sogenannt renitente Flüchtlinge ohne jede Betreuung untergebracht, Menschen mit grossen psychischen und existenziellen Problemen», sagt Gustav Ott, Präsident des Vereins Hilfe für Asyl Suchende. Es habe bereits zuvor Probleme wie Messerstechereien und Brände gegeben. «Wir haben immer ein Nottelefon im Minimalzentrum gefordert. Das haben die Behörden stets abgelehnt», so Ott.
Zweitens hat sich die Bündner Polizei in der Tatnacht fragwürdig verhalten. Der verurteilte Täter versuchte nach seiner Attacke, die Polizei zu informieren und Hilfe zu organisieren. Nachdem der Palästinenser nachts zum unbesetzten Polizeiposten lief, rief ein Anwohner die Polizei, worauf eine Streife den Mann abholte, zurück ins Minimalzentrum brachte und wieder umkehrte, ohne die Lage im Zentrum zu prüfen. Gemäss Polizeiangaben sei nicht ersichtlich gewesen, dass es sich um einen Notfall handelte. «Wir haben den Einsatz intern ausgewertet. Es gab keinen Grund für eine Untersuchung», sagt der Bündner Polizeisprecher Thomas Hobi, als ihn die WOZ auf die mögliche unterlassene Hilfeleistung anspricht.
Jan Jirát