Kost und Logis: Ein Wanderweg weniger
Bettina Dyttrich will nicht durch die ganze Rheinschlucht gehen
Es muss ganz gewaltig gedröhnt haben vor 9500 Jahren, als der Flimserstein herunterkam. Der grösste Bergsturz der Alpen staute den Vorderrhein auf und deckte mehr als fünfzig Quadratkilometer zu. Seither arbeitet sich der Fluss durch den Schutt und hat eine faszinierende Landschaft geschaffen, die Ruinaulta.
Mit vierzehn war ich das erste Mal da, in einem Ferienlager des WWF. Wir zelteten beim Bahnhof Versam. Besonders gut erinnere ich mich an die Nächte – die seltsamen Diskussionen am Feuer, das Putzen der Kochtöpfe mit Sand, das Leuchten der weissen Felsen im Mondlicht. Einer der Leiter war ein evangelikaler Kreationist. Einer, der im Ernst glaubte, die Welt sei in sieben Tagen erschaffen worden. Er versuchte niemanden zu indoktrinieren, das muss ich ihm zugutehalten. Aber ich war versessen auf existenzielle Themen und verwickelte ihn in einen Disput, der einen ganzen Abend dauerte und an dem sich nach und nach fast die ganze Gruppe beteiligte. Die weissen Felsen, viel älter als die Erschaffung der Welt laut Bibel, hörten stoisch zu.
Ich gehe immer noch gern in die Rheinschlucht. Falls ich den Fuss verstauche, sagt mir eine der überdimensionierten Infotafeln, wie viele Meter ich bis zum nächsten Bahnhof humpeln muss. Nichts gegen Infos, aber hier stehen eindeutig zu viele Tafeln, und sie sind zu gross. Auch auf die Aussichtsplattformen, die in den letzten Jahren an die Ränder der Schlucht gebaut worden sind, kann ich verzichten.
Es ist ein Zwiespalt, in dem alle Umweltorganisationen stecken: Wer Tiere, Pflanzen, Berge und Flüsse schützen soll, muss sie zuerst erleben. Ohne Liebe gibt es kein Umweltbewusstsein. Kennenlernen ohne Stören geht allerdings fast nicht, zumindest nicht in empfindlichen Zonen wie Kiesbänken, auf denen Flussuferläufer brüten. Naturerlebnistourismus ist immer schon ein Kompromiss. Aber auch einen Kompromiss kann man unterschiedlich gestalten. In der Rheinschlucht ist die Grenze zum Spektakel erreicht. Jetzt wollen der Kanton Graubünden und der Verein Ruinaulta auch noch das letzte Stück der Schlucht bis zum Bahnhof Trin mit einem Wanderweg erschliessen. Dazu soll extra der Richtplan geändert werden – das Gebiet ist geschützt. Und was kommt danach? Eine Hängebrücke quer über die Schlucht?
Mir gefällt gerade, dass der Wanderweg nicht durchgehend ist. Dass man nach der Eisenbahnbrücke den steilen Wald hinaufsteigen muss Richtung Flims und in eine völlig andere Landschaft kommt. Ich bin ganz zufrieden, dass ich nicht jeden Winkel der Schlucht kenne, und wenn ich damit einem Vogel helfe, weil ich nicht auf seine Eier trample, freut mich das. Das wäre doch einmal etwas Neues – Tourismuswerbung mit Wegen, die es nicht gibt.
Bettina Dyttrich ist WOZ-Redaktorin. Die Vernehmlassung zur Richtplanänderung läuft noch bis Ende April. Mehr dazu finden Sie auf www.regiun-surselva.ch unter «Regionalentwicklung».