Kunst am Berg: Ufosichtung in der Kalthütte
Im Sommer, als die Schweizer Berge ins Rutschen kamen, gibt es gleich drei Kunstschauen in Dörfern und Alpentälern mit Beziehungen zu Bergstürzen. Was kann die Kunst angesichts von Naturgewalten?

Einer der grössten Bergstürze des Alpenraums ist heute ein begehrtes Fotosujet. Wenn die Rhätische Bahn durch die fantastischen Kalksteintürme der Rheinschlucht fährt, kleben viele Reisende mit ihren Smartphones an den Scheiben. Dabei wissen wohl nur die wenigsten unter ihnen, dass die Schlucht zwischen Reichenau und Ilanz das Resultat eines gigantischen Felssturzes ist. Vor 10 000 Jahren brachen oberhalb des heutigen Flims 25 Millionen Tonnen Gestein ab und begruben das Tal des Vorderrheins unter einer mehrere Hundert Meter tiefen Schuttschicht. Nach und nach hat sich der Fluss einen neuen Weg gebahnt. 2008 erklärte die Unesco dieses Wunderwerk der Erosion zum Weltnaturerbe, zusammen mit der gesamten Tektonikarena Sardona.
Wenn die Natur auch ein Archiv vergangener Katastrophen ist, was ist dann die Kunst? Wir sind unterwegs ins Safiental, einen Seitenarm der Rheinschlucht, durch den sich ein weiteres Flüsschen gräbt, die Rabiusa – und wo alle zwei Jahre eine durchs enge Tal verstreute Kunstschau stattfindet. Die Biennale Safiental trägt dieses Jahr den Titel «Was wäre, wenn? Stimmen aus der Zukunft». Und gibt damit eine erste Antwort auf die Frage nach der Kunst und ihrer Funktion: Sie kann durch die Zeit reisen. Etwa in der Videoarbeit von Monica Ursina Jäger, die ein Sichtfenster in die Vergangenheit baut, durch das man auch die Gegenwart klarer sieht.
Zeitreise im Fichtenwald
Jägers atmosphärisch dichte Hightechvideoinstallation behauptet sich gut gegen die Aura des alten Heustalls, in dem sie zu sehen ist. «Transient Traveller» zeichnet die Wanderbewegungen eines alten alpinen Fichtenwalds am Pragelpass nach, zoomt auf die Lebenszyklen eines einzelnen Baums, wirft aber auch viel grössere Fragen auf: Woher kommt diese menschliche Sehnsucht nach einer von Menschen unberührten Natur? Warum wünschen wir uns einen «echten» Urwald, den es ausserhalb unserer sehnsüchtigen Projektionen so gar nicht gäbe?
Wie Jäger, die an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften forscht, im Gespräch ausführt, haben ihre Hintergrundrecherchen gezeigt, dass sich der so urwüchsig und autark wirkende Fichtenwald ohne menschliche Beihilfe über die Jahrhunderte gar nicht hätte entwickeln können. Eine Studie von 1994, die diese menschliche Mitgestaltung des vermeintlich seit Urzeiten unberührt vor sich hin wuchernden Waldes belegt, wird nach Erscheinen eingestampft: Ihre Ergebnisse stellten die angestammte Sichtweise auf den Bödmerenwald infrage. Eines der zwei übrig gebliebenen physischen Exemplare dieser Forschungsarbeit präsentierte Jäger letztes Jahr in der Kunsthalle Wil: Kunst als Retterin unliebsamer wissenschaftlicher Erkenntnisse.
Zuvor standen wir noch andächtig auf einer Waldlichtung neben einem kleinen, überwachsenen Hügel, den man ohne die Kunstaktion wohl achtlos passiert hätte. Der Hügel sei das Überbleibsel eines alten Hangrutsches, erzählt der brasilianische Künstler Ernesto Neto und lässt dann die Anwesenden gemeinsam ein Lied ihrer Wahl singen. Man einigt sich auf «Frère Jacques». Tags darauf wird Neto hier im Rahmen einer Performance das Kernstück einer seiner alten Skulpturen vergraben.
Kunst als Bindeglied zwischen Recherche, Gemeinschaft unter Fremden, Verzauberung und erdenschwerer Wirklichkeit – aber auch als unterirdische Flaschenpost für eine Zukunft. Hier im Wald, einen kurzen Spaziergang vom Dorf Tenna entfernt, steht die Kunst zudem in direkter Konkurrenz zum Wasserfall, der ein paar Hundert Meter entfernt in die Tiefe stürzt, eingerahmt von einem wilden Tobel.
Kunst am Strassenrand
In der Kunstgarage am Talausgang in Versam hat Huhtamaki Wab geheimnisvolle Objekte und Dokumente drapiert. Dazu ein längeres Video, in dem der gebürtige Tokioter seine mehrwöchige Reise dokumentiert, die ihn per Autostopp aus seiner temporären Heimat Cornwall ins Safiental gebracht hat: eine Hommage ans Nomadische und zugleich der Versuch, möglichst nur bereits bestehende Energiequellen zu nutzen und mit recycelten Alltagsobjekten zu arbeiten. Wabs detailverliebte Installation, die auch den Ozean evoziert, der vor sechzig Millionen Jahren die gesamte Alpenregion überzog, steht in Versam direkt neben der Talstrasse, auf der sich Autos, Velofahrer:innen, Lastwagen und Postautos ungemütlich nahe kommen.
Vom Strassenlärm einmal abgesehen, sind wir in dieser umfunktionierten Garage schon beinahe wieder zurück in einer gewohnten Kunstumgebung: in einem Kubus mit geweissten Wänden, dem sogenannten White Cube. Die Aufmerksamkeit – genauso wie die Ungeduld – bleiben hier notgedrungen auf die Kunst fokussiert. Wer den Blick schweifen lässt, findet keine Ablenkung. Bergbiennalen mit ihren teils spektakulären Kulissen und Räumlichkeiten erinnern auch daran, dass wir Kunst für gewöhnlich in solchen mehr oder weniger sterilen Ausstellungsräumen konsumieren.
Zuhinterst im Tal müssen sich die «Traumsammlerinnen» von Stefanie Salzmann gegen einen verwunschenen Wald behaupten. Doch Salzmanns farbige Wollskulpturen verschmelzen harmonisch mit den Tannen, die sie wie zahme, kleine Kobolde umarmen. Aus anderen Blickwinkeln wirken sie wiederum wie geheimnisvolle Taschen oder Brutkästen, in denen sich in den langen, einsamen Stunden im Wald nachtseitige Einsichten und Fantasien ansammeln könnten. Ihre gesponnenen, gefärbten und dann zu robustem Tweedstoff verwobenen Fäden aus einheimischer Schafwolle schlagen eine Verbindung zur Biennale Bregaglia, die dieses Jahr im Bergeller Dorf Bondo stattfindet, wie auch zur Klöntal-Triennale, die soeben in den Hallen einer einstigen Weberei und Spinnerei im Glarner Dorf Diesbach eröffnet wurde.
Windpavillon am Auffangbecken
Aber zuerst Bondo. Hier liegen die graubraunen Schafwollebüschel unbearbeitet auf dem Erdreich eines Gärtchens, das die Künstlerin Athene Galiciadis mitsamt Gewächshaus am Dorfrand angelegt hat. Der Titel dieser Gartenarbeit: «Shelter», also Zuflucht. Auch die Wolle ist nebst ihrer Funktion als Dünger vor allem ein Schutz: vor Schnecken und vor der Kälte der Nacht. Die kleine Schutzhütte für die Tomatenpflänzchen wirkt gleich noch viel fragiler, wenn man sich die existenzielle Bedrohung in Erinnerung ruft, der Bondo bei den grossen Bergstürzen am Piz Cengalo 2011 und dann vor allem 2017 ausgesetzt war. Alle 200 Dorfbewohner:innen mussten damals evakuiert werden. Entlang des Bergbachs Bondasca wälzten sich an mehreren Augusttagen teils meterhohe Murgänge ins Tal, rissen Aufräumbagger und einzelne Häuser mit.

Die Biennale Bregaglia ist eine gute Gelegenheit, das schön erhaltene, erstmals im frühen Mittelalter erwähnte Bergeller Dorf Bondo endlich einmal aus der Nähe zu betrachten – mitsamt den markanten neuen Betonbauten zur Kanalisierung weiterer Muren. Wie als absichtlicher ironischer Kontrast zur betonierten Wucht führt eine schmale Hängebrücke am oberen Dorfrand über die Bondasca. Auf ihren schwankenden Holzplanken überblickt man mit leichtem Schauder das riesige Auffangbecken, in dem vermutlich das ganze Dorf Platz hätte. Die dünnen Stahlseile und Gitter dieser Hängebrücke gehen fast nahtlos in die farbigen Fäden über, die der Architekt Kotoaki Asano auf einer benachbarten Wiese aufgespannt hat; «Windpavillon» nennt er seine filigrane Installation. Eine etwas andere Art Windpavillon kommt vom Fotografen Georg Gatsas, der in einer alten Holzhütte auf Stofftücher gedruckte, federleichte Baumfotos von massiven Holzbalken baumeln lässt.

In ein kompaktes altes Steinhäuschen, ein sogenanntes Crotto, hat Lisa Collomb ihre Installation gebaut. Mitten im stockdunklen Raum scheint ein erleuchtetes, geheimnisvolles dreidimensionales Gebilde schwerelos im Raum zu schweben: ein organisches Ufo? Ein Sternhaufen? Eine Fata Morgana? Oder schlicht eine erstaunlich vertraut wirkende Hightechinvasion in einem einfachen Steinhaus mit gestampftem Erdboden und natürlichem Kühlmechanismus, das vermutlich seit vielen Jahrhunderten beinahe unverändert hier am Wegrand steht? Mittels einer speziellen Drucktechnik auf Acrylplatten verdichtet Collomb in ihrer ästhetisch berückenden Arbeit «A World between the Lines» eine ganze Welt zwischen den Zeilen. Und liefert so eine weitere Definition von Kunst.
Gegen den Lochkartenterror
Statt über steile Steinstufen hinabstürzend wie die Bondasca fliesst das abgezweigte Linthwasser zügig und schnurgerade auf die alte Weberei und Spinnerei Legler und Co. in Diesbach zu. Das in einen Betonkanal eingefasste Wasser betreibt ein Kleinkraftwerk, das bis heute in Betrieb ist; im Gegensatz zur Weberei, die 2001 endgültig stillgelegt wurde. Es ist nicht das einzige Fabrikareal im «Glarner Hinterland», wie man die Gegend früher ohne Umschweife nannte, das weitgehend ungenutzt langsam zerfällt.
In Diesbach zieht nun immerhin für einen Monat Kunst ein, unter dem passenden Titel «In a State of Flow». Für ihre dritte Auflage hat die Klöntal-Triennale den fjordähnlichen, von hohen Felswänden gesäumten Klöntalersee verlassen und bespielt nun den Vorplatz und mehrere Etagen der alten Fabrik. Dieser radikale Tapetenwechsel glückt allein schon deshalb, weil der neue Standort nochmals ganz neue Schlaglichter auf die Bergregion und ihre sozialen Problemzonen erlaubt: Arbeitslosigkeit, Abwanderung, Hoffnung auf einen Verdienst; aber auch harte Arbeitsbedingungen und Ausbeutung in den einheimischen Fabriken ebenso wie im globalen Stoffhandel, der im 19. Jahrhundert für das Glarnerland zur zentralen Einnahmequelle wurde.
Romy Nína Rüegger greift diese Aspekte in ihrer Arbeit «A Fabric in – Red» in vielschichtiger Weise auf. Auf blutrot bedruckten Stoffbahnen, die sich wellenförmig durch die Räume der ehemaligen Weberei ziehen und wie Zungen oder Transparente aus dem Fenster nach draussen hängen, verknüpft Rüegger lokale Industriegeschichte und ihre kolonialen Verstrickungen, die sie in jahrelanger Recherchearbeit erforscht hat. Es geht dabei auch um die Jagd nach Druckmotiven und nach der «richtigen» roten Stofffarbe. Fast alle kennen die roten «Glarnertüechli», deren Nachfolgemodelle heute manchmal sogar die Hälse von Filmstars schmücken. Weniger bekannt dürfte sein, dass sich die Glarner Textilindustriellen sowohl die verwendeten Muster wie auch Farbe und Drucktechnik im «fernen Osten» aneigneten, auf den Spuren der europäischen Kolonialmächte. Quasi umhüllt wird diese Arbeit mit einer Soundinstallation: 240 Beats pro Minute, auf der Klangbasis von Holzschlegelhämmern, mit denen die Muster per Druckmodel einst von Hand auf die Stoffe gehämmert wurden.
In diesem wie auch in weiteren künstlerischen Beiträgen in Diesbach geht es auch um die Arbeit der Frauen, deren Erfahrungen nie aufgeschrieben wurden – und um die wichtigen Arbeitskämpfe, die im Glarnerland schon sehr früh ausgefochten wurden. An sie erinnern die roten Stoffbahnen von Rüegger, aber auch die mit bunten Abstraktionen bedruckten Tücher von Vitjitua Ndjiharine. Diese flattern an der Fassade der Fabrik gut sichtbar im Talwind – und schlagen wiederum den Bogen nach Namibia und zur Frage nach der Restitution von Kulturgut, das unter der deutschen Kolonialherrschaft einst geraubt wurde.
Izidora I Lethe wiederum hat alte Lochkarten, die bei Arbeitsantritt am Fabrikeingang in der Stechuhr gestempelt werden mussten, ein weiteres Mal durchlöchert: mit einem Schuss. Dafür spannte sie mit dem alten Hauswart zusammen, der seit 1974 und bis heute im Fabrikgebäude geblieben ist und dort im Dachstock eine Schiessanlage eingerichtet hat. Die Künstlerin erinnert so auch an die grossen Probleme, die diese Stechuhren als rigorose Kontrolle des Arbeitsbeginns für die Arbeiter:innen mit sich brachten, die daneben noch Bauernhöfe bestellen und Familien betreuen mussten. Solidarische Gesten wurden drakonisch sanktioniert: «Wer die Karte eines anderen stempelt, kann mit Entlassung bestraft werden», stand in Grossbuchstaben auf jeder Lochkarte. Kunst ist hier ästhetisch übersetzte Historie, ein Korrektiv für geglättete Industriepioniermythen, der Versuch einer Bergung beinahe vergessener Geschichten und Lebensrealitäten.
Vierbeiner im Maschinensturm
Im zweiten Obergeschoss der alten Weberei gibts einen eindrücklichen Clash zwischen nur leicht futuristisch anmutender Robotik und den Aufnahmen alter Maschinen- und Fabrikgeräusche: ein Höhepunkt dieser Triennale. Im vorderen Teil des leer geräumten Fabrikraums tänzeln und «stämpfeln» drei hundeähnliche Roboterwesen des Künstlerduos AATB. Die überraschend geschmeidigen mechanischen Vierbeiner scheinen auch auf die Anwesenheit von Menschen zu reagieren und überbringen uns vielleicht eine Nachricht aus der nahen Zukunft, die aber in ihrer Maschinensprache kaum zu decodieren ist. Im hinteren Teil des Raums erklingen dazu die ebenfalls schwer zu entwirrenden akustischen Zeitzeugnisse aus der Vergangenheit, von Veronika Spierenburg zum eindringlichen Klangkörper montiert. Und mit jedem lauten Anschwellen wirken diese Geräusche wie eine körperliche Attacke – der die Arbeiter:innen tagtäglich ausgesetzt waren.

Wie lärmig, stickig und heiss es in den Fabrikräumen gewesen sein muss, wie lange die Arbeitstage waren, wie ätzend die Chemikalien, mit denen hantiert wurde: Das ist in der ausgezeichneten Begleitpublikation zu dieser Klöntal-Triennale nachzulesen. Und bei einem Aufsatz über die Erfindung der Landschaft in der Romantik denkt man auch nochmals zurück an die Rheinschlucht und an das Dorf Bondo unter dem Piz Cengalo. Auch Diesbach steht übrigens – wie das «Historische Lexikon der Schweiz» weiss – auf einem alten Schuttkegel, den einst der Rufibach hinterlassen hat.
Art Safiental täglich bis 20. Oktober 2024. www.artsafiental.ch
Biennale Bregaglia in Bondo täglich bis 28. September 2024. www.biennale-bregaglia.ch
Klöntal-Triennale in Diesbach-Betschwanden bis 29. September 2024; regulär nur freitags, samstags und sonntags geöffnet; zahlreiche Veranstaltungen und Textbeiträge: www.kloentaltriennale.ch. Die Publikation kann für zwölf Franken vor Ort bezogen werden.