Streik an der Berliner Charité: Tabubruch in der Spitalhierarchie
Können PflegerInnen, die sich tagtäglich um PatientInnen kümmern, einfach die Arbeit niederlegen? Natürlich nicht. Und doch gibt es Mittel und Wege, eine Spitalverwaltung unter Druck zu setzen.
Es ist schon eine Weile her. Doch noch immer ist der Streik am Berliner Klinikum Charité ein gutes Beispiel dafür, dass auch Krankenhausbeschäftigte erfolgreich für ihre Interessen kämpfen können. Anfang Mai 2011 traten die KrankenpflegerInnen der vier Krankenhäuser der Charité in einen Ausstand, den es in dieser Form in Deutschland bis dahin nicht gab. Und nur eine Woche später hatten sie ihre wichtigsten Forderungen durchgesetzt.
Die Charité ist das grösste Universitätsspital Europas und – gemessen an der Beschäftigtenzahl – das zweitgrösste Unternehmen in Berlin. 14 000 Lohnabhängige, darunter 2500 PflegerInnen und 2000 Angehörige des ärztlichen Diensts, sorgen dafür, dass jährlich rund 140 000 PatientInnen stationär und 590 000 ambulant behandelt werden. Doch die Arbeit ist hart – und sie wurde in den vergangenen Jahren immer härter. «Während die Klinikverwaltung das ärztliche Personal aufstockte, hat sie im Pflegebereich Stellen abgebaut», erinnert sich Dana Lützkendorf, «und während die Ärzte innerhalb von zwei Jahren eine Gehaltserhöhung von rund fünfzehn Prozent bekamen, lagen unsere Löhne um 300 Euro unter dem bundesweiten Branchenniveau.»
Es gärte also im Pflegebereich. Doch was tun? Die Kranken einfach sich selbst überlassen? So etwas macht keine Pflegerin. Zudem hätte eine einfache Arbeitsniederlegung die Verwaltung kaum getroffen: Da die Krankenkassen auch bei Streik weiterzahlen, ist der Druck minimal. Zudem gehörte nur ein kleiner Teil der Belegschaft der Gewerkschaft an. Schlechte Voraussetzungen also, an denen schon einmal, 2006, ein Streik gescheitert war.
93 Prozent für Vollstreik
Doch dann, Anfang 2011, schlugen engagierte GewerkschafterInnen einen neuen Kurs ein. Sie gingen durch die Stationen, sprachen mit allen Pflegekräften, diskutieren mit ihnen die Forderungen (Anhebung der Löhne um 300 Euro im Monat, Abschaffung der Lohnunterschiede zwischen den Ost- und den Westberliner Häusern, bessere Vergütung der Nachtarbeit, Übernahme der Auszubildenden, Besserstellung der Teilzeitkräfte) und gaben die Parole aus: «Nicht der Streik, der Normalzustand gefährdet die Patienten.» Danach votierten 93 Prozent der Verdi-Mitglieder für einen unbefristeten Vollstreik, und im März 2011 traten über 2000 PflegerInnen in einen ganztägigen Warnstreik.
«Wir haben natürlich alle möglichen Kommunikationsmittel wie Facebook oder das spitaleigene Intranet genutzt», sagt Lützkendorf. Und dann hätten sie beschlossen, über die Bettenbelegung selber zu entscheiden. «Wir riefen eine Woche vorher alle Patienten an, deren Operation nicht lebensnotwendig war, und verschoben die Termine.» Das brachte sie zwar in Konflikt mit den OP-ÄrztInnen, die nach Eingriffen bezahlt werden, war aber effektiv: Die Zahl der Eingriffe sank um neunzig Prozent. Das traf die Klinikleitung an einer empfindlichen Stelle; die Charité, die Gewinne zu machen begann, verlor Geld.
Ab Streikbeginn, so Lützkendorf, hätte ohnehin nur noch die Streikleitung über Operationen entschieden. Damit brachen die Streikenden ein Tabu – und stellten die Spitalhierarchie auf den Kopf. Hier der Oberarzt, dort die kleine Pflegerin. Was will denn die? Aber die konnte plötzlich was. Natürlich hatte die Streikleitung für einen Notdienst gesorgt, doch selbst die Notdienstpflegenden machten nicht mehr alles mit, sondern Dienst nach Vorschrift. Und überliessen Blutabnahmen, Infusionen oder Verbandwechsel den ÄrztInnen.
Der Faktor Öffentlichkeit
«Am vierten Tag hatten wir über 1500 der 3200 Betten leergestreikt», sagt der Charité-Betriebsgruppenvorsitzende Carsten Becker. Zwei Millionen Euro habe die Klinikleitung am Tag verloren. Der Arbeitskampf beschränkte sich nicht auf das Klinikum. Es habe neben den vielen Streiksitzungen, an denen auch Nichtgewerkschaftsmitglieder abstimmen konnten, viele öffentliche Aktionen gegeben, sagte Dana Lützkendorf: Demonstrationen, auf denen eigene Lieder gesungen wurden, einen Sternmarsch durch Berlin, Transparente mit zündenden Sprüchen und simulierte Notfalleinsätze auf belebten Kreuzungen: «Mut und Zusammenhalt wuchsen von Streiktag zu Streiktag.» Und Hunderte traten der Gewerkschaft bei.
Nach fünf Tagen gab die Geschäftsführung auf: Sie hob die Löhne im Osten auf das Westniveau, akzeptierte die schrittweise Anhebung der Gehälter um 300 Euro auf das branchenübliche Niveau und ging auch auf die anderen Forderungen ein.
Dana Lützkendorf und Carsten Becker berichteten am Kongress «Erneuerung durch Streik», den der Verdi-Bezirk Stuttgart und die Rosa-Luxemburg-Stiftung im März organisiert hatten.