Europäische Streikwelle: Der kämpferische Februar

Nr. 6 –

Steigende Lebenskosten, wachsende Arbeitsbelastung, stagnierende Löhne: Vielerorts in Europa treten die Menschen derzeit in den Streik. Was genau treibt sie an? Stimmen aus Grossbritannien, Belgien und Frankreich.

George, London: «Die Regierung hat sich mit den Falschen angelegt»

«Ich bin gerade von einer Zehnstundenschicht nach Hause gekommen. Eigentlich ein kurzer Tag, denn normalerweise arbeite ich zwölf Stunden am Stück. Es war heute wieder mal so viel los, dass ich gar keine Mittagspause machen konnte. Das ist keine Ausnahme, sondern die Regel. Der Druck ist unglaublich. Überraschend ist das allerdings kaum: Im Lauf der letzten zehn Jahre ist die Zahl der Notrufe um mehr als siebzig Prozent angestiegen, aber die Zahl der Angestellten im Rettungsdienst um gerade mal sieben Prozent.

Ich arbeite seit zwanzig Jahren als Rettungssanitäter. Noch nie war die Situation so schlimm wie jetzt – der Gesundheitsdienst NHS ist auf den Knien. Früher mussten wir zuweilen zehn oder zwanzig Minuten warten, bis wir Patient:innen ins Krankenhaus einliefern konnten; jetzt warten wir in manchen Londoner Spitälern bis zu sieben Stunden. Wir stehen einfach mit der Ambulanz vor der Notaufnahme und warten darauf, die Person ins Spital einchecken zu können.

Der Grund sind die Engpässe, die sich durch das ganze Gesundheitssystem ziehen. Die Regierung hat in den vergangenen zehn Jahren mehr als 20 000 Spitalbetten abgebaut. Es fehlt also an Kapazität. Und Patient:innen, die eigentlich genesen sind und nach Hause gehen dürfen, können nicht entlassen werden, weil die häusliche Pflege ebenfalls mit Personalmangel kämpft. Auch bilden wir in Grossbritannien nicht genügend Hausärzte aus. Und wenn es nicht genügend Ärztinnen gibt, dann rufen die Leute bei kleineren Beschwerden den Krankenwagen – wir werden zu einer Art alternativen Hausarztpraxis.

Das ist der Hintergrund zum Streik. Wir vom Londoner Ambulanzdienst haben in diesem Winter bereits an drei Tagen gestreikt, an diesem Freitag folgt ein weiterer Ausstand. Es ist der erste Streik der Rettungssanitäter:innen seit dreissig Jahren. Ein Stück weit geht es um Löhne. Damit ich wieder so viel verdiene wie 2010, brauche ich fünfzehn Prozent mehr Lohn. Meine Gewerkschaft fordert eine Lohnerhöhung in Höhe des Teuerungsausgleichs plus fünf Prozent, also insgesamt etwa dreizehn bis fünfzehn Prozent. Diese bessere Bezahlung ist nötig, damit wir die erforderlichen Mitarbeiter:innen rekrutieren und auch behalten können.

Aber es geht um mehr. Wir müssen der Öffentlichkeit erklären, wo das Problem liegt: Die Notaufnahmen sind überlastet, weil es nicht genügend Ärztinnen und Pfleger gibt. Es ist nicht so, dass sie weniger arbeiten: Wir alle im NHS arbeiten doppelt so viel wie zuvor; aber es gibt so viel Arbeit, und wir sind so wenige – es ist einfach nicht zu schaffen. Alle sind gestresst, machen kaum Pausen, und das gesamte System stagniert. Seit über zehn Jahren ist der NHS unterfinanziert. Wir nutzen unseren Streik auch dazu, um der Bevölkerung begreiflich zu machen, was für Konsequenzen diese Unterfinanzierung hat.

Die Unterstützung für unseren Streik war bislang phänomenal. Über die Weihnachtstage kamen Leute und brachten uns selbstgebackene Mince Pies, Autofahrer:innen haben uns hupend Solidarität zugesichert, und unzählige Leute haben uns besucht und uns die Hände geschüttelt, darunter Aktivist:innen von anderen Gewerkschaften oder von der Labour-Partei. Die Öffentlichkeit steht hinter uns – das sieht man auch in den Umfragen.

Aber die Regierung scheint das nicht zu kapieren. Ich habe das Gefühl, sie lebt in einer Parallelwelt. Fast alle Kabinettsmitglieder sind Millionär:innen und haben eine private Krankenversicherung. Sie wissen gar nicht, was es bedeutet, auf das staatliche Gesundheitssystem angewiesen zu sein. Auch verbreiten die Minister:innen Unwahrheiten. Wenn sie etwa sagen, dass wir die Patient:innen während der Streiks im Stich lassen: Das stimmt nicht. Denn trotz des Streiks rücken wir in dringenden Fällen aus – wenn zum Beispiel ein Notruf eingeht wegen eines Herzstillstands oder eines Schlaganfalls, dann steigen wir sofort in den Rettungswagen und verlassen den Streikposten.

Die Regierung hat sich mit dem falschen Gegner angelegt. Sie verweigert sich bislang jeglichen Lohnverhandlungen, aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass sie damit durchkommt. Die breite Unterstützung, die die NHS-Angestellten geniessen, hilft uns enorm. Und der Ärger unter den Lohnabhängigen ist in unzähligen Sektoren zu spüren – die Regierung hat so ziemlich alle in Wut versetzt. Die Pfleger:innen zum Beispiel, die überhaupt nicht militant sind und kaum je gestreikt haben, sind stinksauer.

Die Öffentlichkeit sieht, was für riesige Profite manche Unternehmer:innen während der Covid-Pandemie gemacht haben oder wie die Rohstoffkonzerne jetzt von der Energiekrise profitieren. Während manche Leute Millionen scheffeln, fordern wir lediglich eine kleine Lohnerhöhung, damit wir einen angemessenen Lebensstandard beibehalten können. Wie erfolgreich die Streikwelle bereits gewesen ist, lässt sich auch daran ablesen, dass so viele Angestellte einer Gewerkschaft beigetreten sind: Meine Gewerkschaft ist in den vergangenen Monaten von neuen Mitgliedern überrannt worden – sie alle wollen beim Streik dabei sein.»

George (56) ist Rettungssanitäter und Mitglied der Gewerkschaft Unison.

Yasmine, Paris: «Manchmal steht man zwei Stunden fürs Essen an»

«Ich bin im ersten Jahr meines Masterstudiums der Arabistik an der Pariser Sorbonne. Heute ist Streiktag, sodass nur ein Teil des Unterrichts stattfindet. Online, wie zu Coronazeiten. Das Pensum zu verpassen, kann ich mir nicht erlauben; ich bin die Erste in meiner Familie, die einen akademischen Abschluss macht. Meine Mutter ist Hausfrau, und auch mein Vater hat keinen Job, sie können mich finanziell nicht unterstützen.

Mit einem Studienkredit kam ich anfangs über die Runden, weil ich nebenbei bei einer Nachhilfeagentur gejobbt habe. Das hat für die Miete und meine Lebenskosten gereicht, und ich konnte ein bisschen Geld an die Familie schicken. Vor vier Jahren war meine Mutter mit meinen Geschwistern nach Tunesien gegangen, weil das Leben in Frankreich zu teuer wurde; seit kurzem lebt sie wieder bei meinem Vater in Toulouse. Mein Budget für einen Monat ist grösser als das der ganzen Familie dort auf dem Land.

Mit Corona haben dann meine Probleme begonnen. Wie viele andere Studierende verlor ich meinen Job. Doch die Kosten für die Miete der Student:innenwohnung und das tägliche Leben liefen weiter. Ich machte also Schulden, musste Freund:innen um Geld bitten. Dabei habe ich noch Glück, denn das Studio im Student:innenwohnheim, in dem ich lebe, ist achtzehn Quadratmeter gross – das ist viel für Paris. Meine Kommiliton:innen leben teils auf fünf Quadratmetern, man muss nehmen, was man bekommt. Dieses Jahr allerdings spart das Wohnheim extrem bei der Heizung, und auch das Warmwasser fällt regelmässig aus. Aufgrund meiner Schulden bin ich mit der Miete in Verzug, ich könnte bald die Wohnung verlieren. Immerhin habe ich dieses Jahr einen Job an der Uni bekommen, aber es bleiben 2000 Euro Schulden abzubezahlen, sonst meldet sich irgendwann das Gericht.

Gegen die Rentenreform sind eigentlich alle an der Uni, auch wenn es verschiedene Strömungen bei den Gewerkschaften gibt und auch wenn die Studierenden unterschiedlich sozialisiert wurden. Sie sind keine einheitliche Gruppe; der Studiengang spielt eine Rolle, aber auch die familiäre Herkunft. In der Ablehnung der Reform sind sich die Student:innengewerkschaften einig.

Aus meiner Sicht profitieren von der Reform nur die Reichen, die Firmenchefs. Sie ist ungerecht, sie trifft jene, die hart arbeiten. Deswegen auch der gegenwärtige Streik: Dadurch wird viel Druck auf die Reichen erzeugt, denn ein landesweiter Streik kostet sie viel Geld, während die armen Schichten nicht mehr viel zu verlieren haben.

Während der Coronapandemie bin ich durch ein Poster auf die Essensspenden aufmerksam geworden. Seitdem hole ich mir jede Woche am anderen Ende der Stadt mit meinem Einkaufstrolley meine Lebensmittel. Die Schlange ist lang, manchmal steht man zwei Stunden an. Die Leute reden kaum miteinander. Ich schäme mich, dass ich mir dort das Essen holen muss. Meine Familie und meine Freund:innen wissen nichts davon. Aber achtzig Prozent von dem, was ich esse, kommt von dieser Tafel. Ich hätte nie gedacht, dass so etwas in einem reichen Land wie Frankreich möglich ist.

Ich denke, in Frankreich gibt es durchaus ein politisches Bewusstsein, die Menschen wollen für ihre Rechte kämpfen. Manchmal aber denke ich, wir mobilisieren jeweils zu sehr für ein einzelnes Anliegen, etwa für die Rente. Das ist sicher extrem wichtig, aber es gibt sehr viel mehr Probleme in Frankreich, die man angehen müsste.

Ich verfolge viele Medien in arabischen Ländern, und dort wird mit grossem Unverständnis aufgenommen, was hier passiert. Die finden es merkwürdig, wenn die Leute in einem wohlhabenden Land wie Frankreich auf die Strasse gehen. Ich wäre gern mehr auf den Demos, aber ich muss so viel Zeit investieren, um Anträge auszufüllen, für Essen anzustehen und das Pensum des Unterrichts zu schaffen. Mir bliebe nur die Alternative, aus Paris wegzuziehen, in eine billigere Gegend – und dann zwei Stunden Fahrtweg in Kauf zu nehmen. Es gibt staatliche Hilfen, doch all die Anträge sind so mühsam. Viele geben dann einfach auf. Trotzdem glaube ich, dass ich es schaffen kann und dass es nicht ewig so weitergeht.»

Yasmine (25) studiert an der Universität Sorbonne in Paris. Mitglied einer Student:innengewerkschaft ist sie nicht.

Els Opdenbergh, Antwerpen: «Irgendwann schnallen sie mir noch Rollschuhe an»

«Pflegefachfrau ist mein Traumjob, bis heute. Ich mache ihn sehr gerne und wüsste nicht, was ich anderes tun wollte. Aber seit ich vor inzwischen 28 Jahren mein Studium abschloss, hat sich der Pflegebereich in Belgien stark verändert. Ich bin sehr auf die Patient:innen gerichtet, ich möchte für sie da sein und mit ihnen reden. Ich sehe Menschen ganzheitlich, das Physische und das Psychische hängen zusammen. Aber unser Päckchen ist immer voller geworden. Es kommen mehr und mehr Aufgaben dazu, was zulasten der Patient:innen geht.

Das Verhältnis zwischen Pflege und Administration ist nicht mehr im Gleichgewicht. Wenn ich am Computer im Detail dokumentiere, wie ich eine Operationswunde versorgt habe, verbringe ich damit mehr Zeit als mit der Versorgung selbst. Oder Blut abnehmen: Früher kontrollierte ich das Armband der Patient:innen, nahm Blut ab und schickte es weg. Heute habe ich eine Art Smartphone, das ich gegen meine Dienstmarke halte. Dann sehe ich Aufträge zur Blutabnahme, scanne den Code, das Bändchen der Patient:innen, später dann die Röhrchen mit Blut. Oft komme ich mir vor wie eine Pflegesekretärin.

Die Zeit, die man dafür braucht, fehlt dann mit den Patient:innen. Wenn man trotzdem zu ihnen geht, muss man anderswo einen Zahn zulegen. Also eilt man im Laufschritt von Zimmer zu Zimmer und ist permanent unterwegs. Ich denke, dass sie mir irgendwann noch Rollschuhe anschnallen werden!

Durch die Extraaufgaben dauert natürlich alles viel länger. Aber wir haben das Personal nicht, um das zu bewerkstelligen. Alle Spitäler müssen heutzutage bestimmte Normen erreichen. Bei uns geht es um ein Sicherheitslabel: Dieses System ist auf einen Schlüssel von fünf Patient:innen pro Pflegekraft ausgelegt. Mit der Wirklichkeit stimmt das aber nicht überein. Wenn wir am Wochenende anfangen, sind wir nur zu dritt – für 22 Patient:innen.

Eine Sache, die auf der Strecke bleibt, ist die Kollegialität. Früher hast du mit den Kolleg:innen geredet, wenn etwas passierte, wenn es Patient:innen schlecht ging, wenn du etwas Schockierendes erlebt hast. Man war füreinander da, liess auch mal Dampf ab. Teamgeist ist wichtig bei dieser Arbeit. Heute sind wir nicht weniger kollegial, aber alle sind für sich beschäftigt, heben oder zerren oder schleppen etwas, oft nicht gerade ergonomisch korrekt. Die Leute bekommen es dann im Rücken oder in den Knien zu spüren oder fallen mit Burn-outs lange aus. Burn-outs gibt es sehr viele, sie nehmen immer mehr zu.

Ich arbeite sechzig Prozent, mein Mann in Vollzeit. Wir haben zwei Kinder. Wenn wir in die Ferien fahren, ist das ‹low budget›, aber immerhin können wir noch Ferien machen. Doch als ich unsere Gas- und Elektrizitätsrechnung sah, musste ich schon leer schlucken: Die ist von 220 Euro im Monat auf 670 gestiegen. Während der Pandemie investierte die Regierung 600 Millionen Euro in höhere Pflegelöhne. Aber dieser Topf war leer, bevor er einmal rumgehen konnte und alle etwas daraus bekamen. Mein Gehalt ist dasselbe wie vorher.

Wie in anderen Ländern hat auch in Belgien die Covid-Krise diese Probleme an die Oberfläche gebracht: den Personalmangel und die Work-Life-Balance, die völlig unausgewogen ist. Dafür brauchen wir Lösungen, und jetzt ist die Zeit dafür, bevor wir wieder in Vergessenheit geraten! Du musst das Eisen schmieden, solange es heiss ist. Wenn wir das erst in zwei, drei Jahren tun, wird es heissen: Die ganze Zeit waren sie still, und jetzt haben wir auf einmal ein Problem?

Covid hat offengelegt, was in anderen Ländern läuft. Ich hatte keine Ahnung, wie lange etwa das Pflegepersonal in Grossbritannien keine Lohnerhöhung erhalten hat. Nun, bei Demos, denkt man sich: ‹Wir sind damit nicht allein. Die haben dort das gleiche Problem.› Ich finde schon, dass es eine internationale Solidarität gibt. Im Dezember fand in Brüssel eine Pflegekundgebung mit Delegationen aus vielen Ländern statt. Es ist wichtig, dass die Gewerkschaften diesen Kontakt aufrechterhalten.

Auch in Brüssel demonstrierten am 31. Januar 20 000 Angestellte aus Psychiatrie, Kinderbetreuung, Spitälern und Pflegeheimen. Alle, die im Sektor beschäftigt sind, spüren den Druck. An diesem Tag herrschte eine grosse Verbundenheit. In unserem Krankenhausverband hat sich die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder in den letzten drei Jahren verdoppelt.

Auf der anderen Seite hat das Thema Streiken bei uns eine andere Dimension als im Hafen oder einer Fabrik, die man einfach schliesst. Für den Pflegebereich gibt es wie für Polizei und Feuerwehr eine Minimalbelegung. Und die Leute bei uns haben eine besondere Loyalität zu ihrer Arbeit und den Patient:innen. Um es mal grob auszudrücken: Ich kann sie nicht in der Pisse und Scheisse liegen lassen. Wegen dieser Loyalität haben wir Aufkleber drucken lassen: ‹Wir hätten gerne gestreikt, aber leider gibt es zu wenig Personal.›»

Els Opdenbergh (49) ist Pflegefachfrau in der Herzchirurgie und Clusterverantwortliche beim sozialistischen Gewerkschaftsbund ABVV.

Feyzi Ismail, London: «Wir könnten noch viel mehr tun»

«Wo soll ich anfangen? Unser Disput mit der Universitätsleitung dreht sich um eine ganze Reihe von Missständen: tiefe Löhne, hohe Arbeitspensen, zunehmende Prekarisierung. Der Lohn ist im Moment am wichtigsten. Ich bin alleinerziehende Mutter, und ein Drittel meines Monatslohns geht für Kinderfürsorge drauf. Unser heutiger Lohn ist inflationsbereinigt um ein Viertel tiefer als 2009.

Aber wir kämpfen auch für bessere Arbeitsverhältnisse. Ich selbst bin zwar fest angestellt, aber zuvor hatte ich acht Jahre lang einen befristeten Vertrag. In meiner Universität sind etwa vierzig Prozent der Dozent:innen in einem solchen unsicheren Arbeitsverhältnis angestellt, oder sie werden im Stundenlohn bezahlt. Wenn man ihre gesamte Arbeitszeit einberechnet, erhalten sie nicht mehr als drei Pfund pro Stunde [rund 3.35 Franken]. In den letzten dreizehn Jahren sind die Unis von dieser prekären Arbeit sehr abhängig geworden. Sie beuten die Angestellten im Prinzip aus.

Und die Arbeitspensen sind durch die Decke gegangen. Viele Dozent:innen arbeiten 50 oder 60 Stunden pro Woche – es ist schlichtweg nicht möglich, die ganze Arbeit in den 35 Stunden zu schaffen, die in unserem Vertrag stehen. Dazu kommt, dass wir viel weniger administrative Unterstützung haben: In meiner Fakultät hatten wir einmal fünfzehn oder zwanzig Angestellte in der Verwaltung, an die sich die Studierenden und die Angestellten wenden konnten. Jetzt sind es noch drei oder vier. Einen Teil der administrativen Arbeit müssen jetzt wir Dozent:innen übernehmen.

Auch die hohen Studiengebühren haben einen grossen Einfluss auf die Art, wie höhere Bildung wahrgenommen wird. 2010 wurden die Gebühren verdreifacht, auf 9000 Pfund pro Jahr [rund 10 200 Franken]. Viele Studierende sehen das Verhältnis zunehmend als einen Handel, sie sagen: ‹Ich will für diese enorme Summe auch etwas geboten bekommen.› Manche fordern jetzt eine Rückerstattung ihrer Gebühren.

Aber anstatt uns verantwortlich zu machen, sollten sie auf die Universitätsleitung wütend sein. Denn Dozent:innen, die gut bezahlt werden, die weder gestresst noch überarbeitet sind, haben einen positiven Effekt auf die Studierenden. Meine Gewerkschaft hat sich stark dafür eingesetzt, dieses Argument vorzubringen. Der Slogan ‹Unsere Arbeitsbedingungen sind die Lernbedingungen der Studierenden› bringt dies auf den Punkt. Tatsächlich haben wir in diesem Streik bislang viele Studierende gesehen, die sich solidarisch zeigen und mit uns an den Streikposten stehen.

Wir fordern eine Lohnerhöhung von etwa zwölf Prozent, also etwas mehr als die derzeitige Inflation. Zudem wollen wir konkrete, glaubwürdige Pläne sehen, wie die Arbeitspensen verbessert und die Prekarisierung zurückgerollt wird. Die Streiktage waren bislang gut, und wir haben uns teilweise mit anderen Gewerkschaften koordiniert. Der 1. Februar, als im ganzen Land eine halbe Million Angestellte aus fünf Gewerkschaften streikten, war toll. Es war der grösste Streiktag seit einem Jahrzehnt. Viele Leute sahen, dass es in den Attacken auf Lohnabhängige in den verschiedenen Sektoren viele Parallelen gibt.

Aber ich finde, wir könnten noch viel mehr tun. Wenn eine Gewerkschaft ein Streikmandat durch eine Abstimmung erreicht hat, darf sie keine Zeit verlieren, denn das Mandat dauert nur sechs Monate. Meine Gewerkschaft stimmte bereits im Oktober für den Streik – aber seither haben wir erst an vier Tagen die Arbeit niedergelegt. Klar, wir haben siebzehn weitere Streiktage geplant, aber jetzt müssen wir erneut eine Abstimmung gewinnen, um die Kampagne weiterzuführen. Ein solches zweites Votum zu gewinnen, ist viel einfacher, wenn man auch gewisse Erfolge vorzuweisen hat. Wir hätten also in den vergangenen Monaten mehr tun können.

Wir hätten zum Beispiel von Anfang an einen unbefristeten Streik ausrufen sollen. Im Moment weiss die Unileitung immer ganz genau, an welchen Tagen wir die Arbeit niederlegen werden, und sie kann sich entsprechend darauf vorbereiten. Beim unbefristeten Streik könnten wir einfach sagen: ‹Alles ist zu. Wir unterrichten nicht und korrigieren keine Prüfungen.› Dann würden wir richtig grossen Druck aufbauen und den Universitäten zeigen: Wir können den ganzen Sektor zum Stillstand bringen.»

Feyzi Ismail ist Dozentin der Politikwissenschaft an der Universität Goldsmiths und aktiv in der Gewerkschaft University and College Union (UCU).