Kommentar: Draghis Spiel mit dem Feuer

Nr. 19 –

Der Chef der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, hat den Leitzins auf rekordtiefe 0,5 Prozent gesenkt. Was als trockene Meldung daherkommt, birgt für ganz Europa grosse Gefahren.

In der heutigen Zeit der Krise sind viele Leute überzeugt, dass nur noch TechnokratInnen den Kontinent retten können. Als Inbegriff des Gesellschaftsingenieurs gilt Mario Draghi, der Chef der Europäischen Zentralbank (EZB), der die rare Lizenz besitzt, Geld zu drucken.

Mit dem Versprechen, die EZB sei «bereit, alles zu tun, was notwendig ist», um Europas Krisenstaaten vor dem Bankrott zu bewahren, hatte es Draghi im Sommer tatsächlich geschafft, die Renditen der Staatsanleihen entscheidend zu drücken. Die Banken verstanden, dass sie im Fall eines drohenden Staatsbankrotts künftig ihre Staatspapiere der EZB unterjubeln könnten. Seither verlangen sie weniger (Risiko-)Zins. Nachdem die EZB zudem in der Finanzkrise 2008 den Leitzins innerhalb von Monaten von 4 auf 1 und später weiter auf 0,75 Prozent gesenkt hatte, verkündete Draghi vor wenigen Tagen, ihn auf 0,5 Prozent zu drücken.

Der EZB-Chef will die Wirtschaft beleben. In ihrer eben publizierten Frühjahrsprognose warnt die EU, Europa werde sich langsamer von der Rezession erholen, als bisher erwartet. Doch selbst das ist zu rosig gemalt. Die Prognose dient nicht der Prognose, sie soll selbst erfüllende Prophezeiung sein – man versucht, unter KonsumentInnen und Firmen gute Laune zu versprühen. Tatsache ist: Seit 2008 wachsen die Schuldenberge, und die Zahl der Arbeitslosen nimmt kontinuierlich zu. In Griechenland liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei fast sechzig Prozent. Die Wirtschaftskrise entfaltet sich zur Gesellschaftskrise.

Die EZB kann die Vergabe von Bankkrediten steuern, die die Quelle des wirtschaftlichen Wachstums sind. Wenn eine Bank A einer Firma einen Kredit vergibt, braucht sie dafür zwar kein Geld der EZB, sie schreibt diesen einfach dem Konto der Firma gut. Im Moment, in dem die Firma den Kredit benutzt, um einem Lieferanten Geld auf dessen Konto bei Bank B zu überweisen, hat Bank A jedoch eine Schuld gegenüber Bank B. Um diese zu begleichen, greift sie auf Kundengelder zurück, auf einen Kredit einer anderen Bank, oder sie leiht sich Geld bei der EZB. Je mehr Geld die EZB bereitstellt, desto mehr Kredite werden vergeben. Die Firmen verwenden diese Kredite, um Produkte herzustellen: Sie stellen Arbeitskräfte an, kaufen Maschinen bei anderen Firmen, die weitere Arbeitskräfte anheuern, die mit ihrem Lohn wiederum Produkte kaufen. Die Wirtschaft gerät in Schwung.

So weit die Theorie. Derzeit will ihr die Realität jedoch nicht mehr folgen. Statt das EZB-Geld zur Finanzierung von Krediten zu verwenden, wird es von den Banken gehortet. ÖkonomInnen führen endlose Debatten darüber, weshalb der sogenannte Transmissionsmechanismus nicht mehr funktioniert. In ihrer Ohnmacht ziehen nicht wenige das Register der Moral: Banken hätten keine Ausrede mehr, warum sie auf dem Geld sitzen blieben!

Banken vergeben Kredite, wenn sie daran verdienen. So ist es in der Marktwirtschaft vorgesehen. Und offensichtlich ist das nicht der Fall. Punkt. Oder etwas genauer: Die von den Banken verlangten Zinsen, insbesondere in Krisenstaaten, sind für die Firmen zu hoch. Eine Ursache dafür ist die derzeitige Unsicherheit. Die Menschen wissen nicht, wie viel sie morgen noch verdienen, entsprechend sinkt ihr Konsum. In solchen Zeiten sind auch die Einnahmen und das Überleben der Firmen ungewiss. Entsprechend verlangen die Banken hohe (Risiko-)Zinsen.

Die Unsicherheit ist jedoch nicht das einzige Hemmnis. Sonst bedürfte es lediglich eines ökonomischen Defibrillators, um die Wirtschaft wieder zum Pumpen zu bringen. Als solchen versteht die EZB ihre Tiefzinspolitik. Doch die Versuche greifen kaum. Viele Menschen haben bereits weniger. Seit Anfang der achtziger Jahre klafft die Einkommensschere zunehmend auseinander. Damit sank die Nachfrage der breiten Masse, was man mit Schulden zu kompensieren versuchte. Die Staaten verhalfen den Haushalten zu billigen Konsum- und Hypothekarkrediten. Und sie verteilten Sozialgelder, die sie selbst mit Schulden finanzierten.

2008 platzte die Blase. Die Staaten stützten die Banken, indem sie sich die Schulden der Haushalte auf die eigenen Schultern luden. Nun streichen sie Stellen, senken die Sozialausgaben und drücken die Löhne. Die Nachfrage bricht weiter ein.

Europas Tiefzinspolitik kann sich auch die Schweiz nicht entziehen. Würde die Nationalbank (SNB) ihre Zinsen heben, flösse zusätzliches Kapital in die Schweiz, worauf sie auf dem Währungsmarkt eingreifen müsste, um den Kurs bei 1.20 Franken festzuhalten – das tut sie seit Herbst 2011, um die hiesige Exportwirtschaft zu stützen. Dazu müsste sie Euros mit Franken kaufen, worauf die Menge an Franken weiter zunehmen würde. Diese Tiefzinspolitik birgt grosse Gefahren: Mit ihr schrumpfen nicht nur die Renditen auf den Vermögen der Reichen, sondern auch jene auf den Altersvorsorgen kleiner RentnerInnen. Statt Unternehmenskredite zu animieren, befeuert das Geld der EZB derzeit zudem die Kurse an den Börsen. Und die Vergabe von Hypothekarkrediten. Es drohen neue Blasen, die irgendwann platzen könnten, etwa auf dem Schweizer Immobilienmarkt.

Der Technokrat der EZB, Mario Draghi, hat seine Trümpfe ausgespielt. Nur der demokratische Souverän kann Europa retten: Unter den BürgerInnen muss die Einsicht reifen, dass der Reichtum neu verteilt werden muss.