Europas Wirtschaftskrise: Zentralbank auf der Anklagebank
Deutschlands Verfassungsgericht muss entscheiden, ob die Europäische Zentralbank die Verfassung verletzt. Fällt das Urteil, das für Herbst erwartet wird, mit einem Ja aus, kann Europa erneut in eine akute Krise geraten.
Jörg Asmussen sah aus wie ein Angeklagter, als er letzte Woche in Karlsruhe die Polizeischranke vor dem Bundesverfassungsgericht passierte, wo er von Dutzenden Kameralinsen ins Visier genommen wurde. Vor der Schranke hatten ihn AktivistInnen mit einem Transparent abgepasst: «Asmussen in den Knast!»
Das Direktionsmitglied der Europäischen Zentralbank (EZB) sass nicht auf der Anklagebank. Dort sass die Politik seiner Institution. Im September 2012, als verschiedene Staaten unter der Last hoher Zinsen zu kollabieren drohten, hatte EZB-Chef Mario Draghi ein ungewöhnliches Rezept aus dem Hut gezaubert: Die EZB, so Draghi, sei bereit, Staatsanleihen von Krisenstaaten zu kaufen. Wissen Banken, dass sie im Fall eines bevorstehenden Staatsbankrotts die entsprechenden Anleihen der EZB unterjubeln können, verlangen sie weniger (Risiko-)Zins.
Der Streich gelang. Die EZB musste bisher keine Anleihen kaufen. Das blosse Versprechen gab den Banken genug Sicherheit, sodass etwa italienische Staatspapiere bis Ende 2012 von rund sechs auf fast vier Prozent Verzinsung tauchten.
Dennoch gingen beim Bundesverfassungsgericht Beschwerden ein. Unter anderem vom CSU-Abgeordneten Peter Gauweiler und dem Verbund Mehr Demokratie, dem sich 35 000 BürgerInnen angeschlossen haben. Einen Antrag hat auch die Bundestagsfraktion der Partei Die Linke gestellt, für die der Abgeordnete Gregor Gysi im Gerichtssaal erschien. Der Vorwurf: Die EZB überschreite ihr Mandat. Der EZB ist es verboten, Staaten zu finanzieren. Doch genau das tue sie mit ihrem Anleiheprogramm. Mit fatalen Folgen.
Gerichtspräsident Andreas Vosskuhle stellte gleich zu Verhandlungsbeginn klar, sein Gericht könne einzig prüfen, ob die EZB die Verfassung verletze – nicht, ob ihre Politik erfolgreich sei. Jenseits des zweitägigen Paragrafenstreits eröffneten sich dennoch grundsätzliche politische Fragen.
Die Frage des Wirtschaftssystems
Die bürgerlichen Eingangsvoten waren von der Befürchtung durchdrungen, das Versprechen der EZB, das die Zinsen drückt, würde zu Schlendrian führen. Die Staaten, so die Forderung, sollten dem Urteil der Kapitaleigner ausgesetzt sein: Steigt die Schuld, so steigt der (Risiko-)Zins. Dies zwinge die Staaten zum Sparen. Bundesbankpräsident Jens Weidmann, der als Sachverständiger im Saal sass: «Marktzinsen haben eine disziplinierende Wirkung.» Und das sei gut so.
Der Exberater von Bundeskanzlerin Merkel, der im Beschlussgremium der EZB sitzt, ist einer der beharrlichsten KritikerInnen der EZB. Die Bundesbank steht traditionell wie keine andere Zentralbank für einen rigiden Kurs – sie war es, die sich damals bei der Formulierung des EZB-Mandats mit dem Staatsfinanzierungsverbot gegen Paris durchgesetzt hatte. Protestantische Selbstdisziplin? Vielleicht. Dazu kommt die Erinnerung an die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als die Reichsbank Unmengen Geld druckte und sich daraufhin der Wert der Mark in Luft auflöste. Ein kollektives Trauma.
Dieses Risiko besteht mit dem Anleiheprogramm allerdings nicht. Das Geld, das die EZB den Banken im Tausch gegen Staatspapiere gibt, soll ihnen durch weitere Tauschgeschäfte wieder abgenommen werden. Daneben betreibt die EZB seit 2008 allerdings eine Tiefzinspolitik. Das viele Geld, so warnte der in Karlsruhe klagende Ökonom Joachim Starbatty, führe auf den Immobilien-, Rohstoff- und Aktienmärkten zu neuen Blasen.
Der Auftritt Asmussens war der Moment, auf den alle gewartet hatten. Anders als EZB-Chef Draghi steht der ehemalige Staatssekretär unter CDU-Finanzminister Wolfgang Schäuble – ebenfalls im Saal – nicht im Verdacht, eher lockere (katholische) Auffassungen von Geldpolitik zu vertreten. Vom Vorwurf der unerlaubten Staatsfinanzierung wollte der EZB-Vertreter nichts wissen: Erstens kaufe die EZB die Papiere nicht direkt den Staaten ab, sondern den Banken. Zweitens zwacke sie nur jenen Teil der Zinsspitzen ab, der mit dem Risiko eines Auseinanderbrechens des Euro zu erklären sei. Drittens versuche sie damit, die Zinsen der Bankkredite zu senken – klassische Geldpolitik.
Auch die EZB weiss jedoch, dass ihr Versprechen dieselbe Wirkung hat wie die Garantie, in der Not als «Kreditgeber der letzten Instanz» Staaten zu finanzieren. Die Staaten werden von den erdrückenden Zinsen befreit. Asmussen versuchte, seine KritikerInnen mit dem Verweis zu beschwichtigen, es würden nur Anleihen von Staaten gekauft, die Sparauflagen aus Brüssel befolgten. «Dadurch wird sichergestellt, dass der Druck auf die Mitgliedstaaten hoch bleibt und sie zu Fiskaldisziplin angehalten werden.»
Die Partei Die Linke kritisierte dagegen, dass die EZB auf halbem Weg stehen bleibe. Die Staaten, so führte Gysi aus, sollten von einer staatlichen Bank Geld geliehen bekommen, die sich ihrerseits bei der EZB refinanzieren könnte. Damit würden sie vom Diktat der Banken befreit. Von der Kompromisslösung, Staatspapiere auf dem sogenannten Sekundärmarkt zu kaufen, profitierten dagegen Banken und Hedgefonds. Sein Argument: Die Banken leihen sich bei der EZB billig Geld, kaufen sich Staatspapiere mit hohen Risikozinsen, um in der Not die Papiere der EZB unterzuschieben. So geschah es bereits beim letzten, 2010 lancierten Anleiheprogramm.
Gysis Hauptkritik richtet sich jedoch gegen die Sparprogramme, zu denen die EZB notleidende Staaten faktisch zwingen könne. Damit betreibe die EZB nicht Geldpolitik. Sondern Wirtschafts- und Sozialpolitik: «Die EZB trifft mit den Kürzungsprogrammen weitreichende Entscheide über die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums.»
Die Frage des Nationalstaats
Hinter den bürgerlichen Beschwerden schlummern auch nationalistische Gefühle. Man will verhindern, dass mit deutschen Geldern die Schulden anderer beglichen werden: Hält die EZB Anleihen von Staaten, die auf einmal ihre Schuld nicht mehr begleichen können, so die Kritik, trägt sie den Verlust. Mit dem Eigenkapital, das den Mitgliedstaaten gehört. Der Vertreter des CSU-Abgeordneten Gauweiler, Dietrich Murswiek, warnte: «Das Anleiheprogramm ist ein Programm der Vergemeinschaftung von Staatsschulden, aus der Währungsunion macht die EZB eine Haftungsunion.»
Die Haftungsunion wurde bereits 2010 mit der Errichtung eines Rettungsschirms geschaffen: Mit dem EFSF und dem ESM nehmen die Eurostaaten gemeinsam Geld auf, um es den Krisenstaaten weiterzuleihen. Die Haftungsunion, so die Beschwerden, verstosse gegen das «No bail out»-Prinzip, das den Eurostaaten gegenseitigen Beistand verbietet. Dem ESM hatte das Verfassungsgericht letzten September den Segen gegeben und ihm damit den Weg geebnet.
Fragt sich: Welche Alternative sehen die Kläger?
Rückblende: Als in Europa noch jedes Land seine Währung hatte, konnten wettbewerbsschwache Volkswirtschaften diese Schwäche durch den Wert ihrer Währung kompensieren: Griechenlands Drachme war billig, entsprechend waren es seine Produkte. Mit der Einführung des Euro um die Jahrtausendwende war es damit vorbei. Von da an mussten alle mit denselben Bandagen kämpfen. Resultat: Während das starke Deutschland von nun an jährlich Exportüberschüsse schrieb, importierte Griechenland ständig mehr, als es exportierte. Mit Geld, das es sich aus Deutschland lieh.
Das ist jedoch nur die halbe Geschichte: Was, wenn sich kein Land verschuldet hätte, um Deutschlands Überschüsse zu kaufen? Die Wirtschaft wäre entsprechend geschrumpft – oder die Deutschen hätten sich selbst verschuldet. Tatsächlich sind die Schulden schon seit den achtziger Jahren in fast allen Ländern gestiegen. Immer mehr ÖkonomInnen sehen den Grund in der zunehmenden Einkommensungleichheit: Das sich konzentrierende Geld findet immer weniger rentable Investitionen, weil den Menschen die Mittel fehlen, um zu konsumieren. So wurde das Geld – teils über den Staat – an die Menschen verliehen, die damit konsumierten. Kurz: Die Schulden wären auch ohne Euro weiter gestiegen. Der Euro hat es Deutschland lediglich erlaubt, dass sich andere Länder an seiner Stelle verschulden.
Als 2008 die Blase platzte, haben die Staaten die Banken gerettet, indem sie die privaten Schulden übernahmen. Als einige von ihnen die Schulden selbst nicht mehr zu schultern vermochten, stellten sich die übrigen Eurostaaten hinter sie.
Doch was nun? Die Lösung der meisten BeschwerdeführerInnen lautet, dass die Krisenländer ihre Schuld rückgängig zu machen haben. Das ist auch die Haltung der EZB, die Gysi kritisierte: Die Staaten sollen sich strikten Sparprogrammen unterziehen. Zudem sollen ihre Löhne fallen, damit die Länder wie Deutschland ins Ausland exportieren können. Die Frage ist: Welcher Kontinent soll sich verschulden, um Europas Exportüberschüsse zu kaufen? Denn wenn die Löhne sinken, wird der allgemeine Konsum weiter sinken.
Die liberale Lösung wäre, einen Teil der Schulden zu streichen – schliesslich haben die Gläubiger für diesen Fall einen entsprechenden Risikozins kassiert. Das ist die Haltung der Linken. Und darin liegt auch der Grund, weshalb sich die Partei gegen die Haftungsunion stellt. Die Last hätten die Finanzinstitute zu tragen. Zuerst deren AktionärInnen, dann die KreditgeberInnen und schliesslich die BankkundInnen. Damit würden die Bankenrettungen rückgängig gemacht.
Dies wäre schliesslich auch durch die Besteuerung hoher Einkommen und Vermögen zu erreichen, mit denen die Schulden getilgt würden.
Die Frage der Demokratie
Die Beschwerden richten sich nicht zuletzt auch gegen die Untergrabung der Demokratie. Dietrich Murswiek sparte nicht mit Pathos: «Während sich die EZB im Glanz ihres Erfolgs sonnt und die Medien ihren Präsidenten als eine Art Eurosuperman feiern, nimmt die Öffentlichkeit teilnahmslos hin, dass die Demokratie vor die Hunde geht.» Nicht nur überschreite die EZB ihr demokratisch legitimiertes Mandat. Die von der EZB eigenmächtig in Kauf genommene kollektive Haftung verletze das demokratische Recht des Bundestags, über Staatsausgaben zu entscheiden.
Hier lag ein Angelpunkt, an dem die Kläger ihre Argumentation aufhängten. Im Prinzip ist der Europäische Gerichtshof (EuGH) für EU-Recht zuständig. Stellt sich jedoch heraus, dass dieses mit dem deutschen Grundgesetz kollidiert, könnte das Verfassungsgericht einschreiten. Zweiter Angelpunkt: Falls die EZB ihr Mandat überschritten hat – was allerdings nur der EuGH entscheiden kann –, ist ihre Politik ebenso verfassungswidrig, da Deutschland der EZB die entsprechende Kompetenz nie abgetreten hat. Das Urteil wird im Herbst erwartet (vgl. «Das Urteil»). Ein Einschreiten des Verfassungsgerichts würde einige Staaten und mit ihnen den ganzen Kontinent in eine akute Krise stürzen.
Hier eröffnete sich eine grundsätzliche Frage, an der sich im Saal die Geister schieden: Inwieweit sollen die Politik der EZB oder die Entscheide, die Europas Regierungen unter der Führung von Bundeskanzlerin Merkel in Brüssel treffen, den nationalen Parlamenten unterstellt sein? Und sollen sie den nationalen Verfassungsgerichten vorgelegt werden können? CDU-Minister Schäuble verneinte die zweite Frage klar: «Dadurch entstünde die Gefahr, dass die EZB von einer Vielzahl nationaler Verfassungsgerichte gegensätzliche Befehle erhalten könnte.»
Das ist wahr. Doch solange Brüssel unter Führung der Bundesregierung dem EU-Parlament und den europäischen BürgerInnen ihre demokratischen Rechte vorenthält, bleibt der Nationalstaat der einzige Ort der Demokratie.
Das Urteil
Der Entscheid des Bundesverfassungsgerichts, ob die EZB die deutsche Verfassung verletzt, wird für den Herbst erwartet. Vier Szenarien sind möglich: erstens, das Gericht weist die Klagen zurück.
Zweitens, es legt den Fall dem Europäischen Gerichtshof vor, damit dieser prüft, ob die EZB gegen EU-Recht verstösst – womit sie auch gegen die deutsche Verfassung verstossen würde.
Drittens, das Gericht befindet, die EZB verstosse ohnehin gegen das Grundgesetz.
Viertens – die wahrscheinliche Variante –, das Gericht winkt die EZB-Politik unter Auflagen durch.