Marcel Gisler: «Unter der Hand beschied man mir, ich sei zu extrem, zu radikal»
Vierzehn Jahre nach «F. est un salaud» kommt ein neuer Film von Marcel Gisler in die Kinos. Warum er so lange keine Filme machte, was sein neuer Film «Rosie» mit seinem eigenen Leben zu tun hat und wie er die achtziger Jahre in Berlin verbrachte.
WOZ: Marcel Gisler, in «Rosie», Ihrem neuen Spielfilm, stecke viel Autobiografisches, liest man im Presseheft. Am diesjährigen Dokumentarfilmfestival Visions du Réel waren auffallend viele Filme von Schweizer Regisseuren wie etwa Peter Liechti oder Ramòn Giger zu sehen, die sich mit ihren Eltern auseinandersetzen. Gibt es momentan einen Trend zu «Elternfilmen»?
Marcel Gisler: Ich wusste nicht, dass das im Dokumentarfilm so en vogue ist. Klar, wir alle haben Eltern. Und die Dokumentarfilmer, von denen Sie sprechen, hatten offenbar das Bedürfnis, ihre Eltern filmisch festzuhalten, solange diese noch da sind. Bei mir als Regisseur von Spielfilmen sieht es etwas anders aus. Meine Mutter starb 2003, mein Vater bereits 1979. Erste Fragmente und Notizen zu Erzählungen meiner Eltern sowie Dialogzeilen aus dem Drehbuch stammen bereits aus dem Jahr 1995. Ich bin also wahrscheinlich kein Mensch, der einem Trend nachgelaufen ist. Ich wusste schon damals, dass ich einmal einen Film machen will, in dem die Geschichte meiner Eltern eine wichtige Rolle spielt.
Was interessierte Sie so an dieser Geschichte?
Ich komme aus sehr einfachen Verhältnissen. Meine Mutter stammte aus einer Bauernfamilie in Südtirol, sie hatte immer diesen exotisch anmutenden Dialekt – schon das war für mich etwas Faszinierendes. Mein Vater kam aus dem Zürcher Oberland. Er stammte ebenfalls aus armen Verhältnissen und war in seiner Kindheit und Jugend Verdingbub. Später arbeitete er als Sattler und Tapezierer sowie als Wirt. Ausserdem war er Amateurboxer. Er starb, als ich 19 war. Meine Mutter lebte 24 Jahre lang als Witwe. Sie hatte ähnliche Charakterzüge wie Rosie im Film. Überspitzt könnte man sagen, dass «Rosie» ein Porträt meiner Mutter ist. Ich war der Erste in der Familie, der aufs Gymnasium ging. Und 1981 wanderte ich als 21-Jähriger nach Berlin aus. Der Lorenz aus dem Film, aber auch sein jugendlicher Lover Mario sind ein Stück weit mein Alter Ego.
Gingen Sie 1981 vom provinziellen Altstätten direkt nach Berlin?
Ja, nach einem kurzen Versuch, im rebellischen Zürich von 1980 Fuss zu fassen. Aber das klappte nicht. Für mich war bereits damals klar: Ich will Filmregisseur werden. So klopfte ich mit einem fertigen Drehbuch bei der Filmproduktionsfirma Condor und auch beim Videoladen an und sagte: Ich möchte einen Film machen – kann ich bei euch arbeiten?
An Selbstbewusstsein hat es Ihnen damals nicht gefehlt …
Nein, gar nicht. Ich war sogar beleidigt, als man mir bei der Condor sagte, ich könnte versuchsweise als Aufnahmeleiter mitarbeiten. Ich fand dann gleich: Nein, nein, ich bin Regisseur. Heute kann ich nur schmunzeln darüber, mit welcher Unverfrorenheit ich, der kleine Gay aus der Provinz, damals in Zürich auftrat.
Und wie erlebten Sie Berlin?
Verglichen mit Zürich kamen mir die Leute viel offener vor. Ausserdem konnte man dort leben, indem man einige Tage im Monat einen Gelegenheitsjob ausübte – den Rest der Zeit konnte man Kunst machen oder herumhängen. Berlin war damals die unbestrittene Gaymetropole in Europa. Das fand ich natürlich sehr aufregend. Weil ich Filme machen wollte, versuchte ich die Aufnahmeprüfung an der Film- und Fernsehakademie. Doch ich schaffte nicht mal die erste Hürde. Heute arbeite ich dort als freier Dozent und bilde junge FilmerInnen aus – das erfüllt mich doch mit einer gewissen Genugtuung.
Was geschah in der Zeit zwischen Ihrer gescheiterten Aufnahme als Student und Ihrer heutigen Lehrtätigkeit?
Ich liess mich nicht allzu sehr beeindrucken von der Ablehnung an der Film- und Fernsehakademie. Wie gesagt, meine Überzeugung, bereits Regisseur zu sein, war sehr stark. Bald lernte ich den Regisseur Rosa von Praunheim kennen. Der bestärkte mich darin, dass man einfach filmen müsse, wenn man, so wie ich, mit 21 bereits überzeugt war, ein Autorenfilmer zu sein. Ich schrieb mich pro forma an der Uni ein, so hatte ich Anrecht auf Stipendien und, wenn nötig, zusätzliche Studentendarlehen.
Mit zusammengepumptem Geld und einem Studentendarlehen von ein paar Tausend Franken finanzierte ich dann den ersten Spielfilm, «Tagediebe». Diese Geschichte über eine Dreier-WG im Westberlin der frühen achtziger Jahre spiegelte auch mein damaliges Lebensgefühl wider. Mitten im Dreh ging das Geld aus. Zum Glück schickte jemand aus dem Team das Drehbuch ans ZDF, obwohl ich das als aussichtslos betrachtete. Aber die waren begeistert und stiegen mit 150 000 Mark ein. So konnte ich den Film fertig drehen, der dann in Locarno den Silbernen Leoparden gewann. Da war ich 25. Eine der Hauptrollen spielte Rudolf Nadler. Das war der Beginn einer Zusammenarbeit, die bis heute kontinuierlich weitergeht. Nadler war seither Koautor bei den meisten Drehbüchern meiner Filme. Er hat bei «Rosie» jene Distanz reingebracht, die bewirkt, dass die Story mehr ist als einfach meine eigene Familiengeschichte.
Nach dem Erfolg mit «Tagediebe» drehten Sie 1988 «Schlaflose Nächte» und 1992 «Die blaue Stunde» – zwei weitere Filme im Milieu der Berliner Bohème. Hatte sich das Thema für Sie danach derart erschöpft, dass sie dann am Ende jenes Jahrzehnts mit «F. est un salaud» etwas völlig anderes realisierten?
Ich hatte nach «Tagediebe» nicht daran gedacht, dass das der erste Film einer Art Berliner Trilogie werden würde. Bereits Ende der achtziger Jahre hatte ich die Absicht, «Ter Fögi isch e Souhung», Martin Franks 1979 erschienenen schwulen Kultroman, zu verfilmen, scheiterte aber mit einer ersten Drehbuchversion. Als es dann fast ein Jahrzehnt später in einem weiteren Anlauf klappte, fand ich beim Casting unter Deutschschweizer Schauspielern niemanden, der mich überzeugte. Deswegen suchten wir in Frankreich weiter. Dass aus der Verfilmung eines berndeutschen Romans ein in Zürich gedrehter französischer Film wurde, hatte also mehr mit den Umständen zu tun als mit Planung.
«F. est un salaud» fand grosse Beachtung. Danach wurde es still um Sie. Was war passiert?
Ich fiel nach «F. est un salaud» in ein Loch, physisch und psychisch. Ein Jahr nach Beendigung des Films erkrankte ich schwer und verrannte mich auch noch in eine unmögliche Liebesgeschichte. Zudem bekam ich meine Projekte nicht durch. Unter der Hand beschied man mir, meine Geschichten seien zu extrem, zu radikal. Die Fernsehfilmstoffe, die man mir anbot, waren mir wiederum zu harmlos. Das war in der Zeit, als im Schweizer Film die Welle mit Heimatfilmen anrollte. Da ich nicht drehte, kamen finanzielle Probleme dazu.
Es kam also alles zusammen, oder, besser gesagt, es brach alles weg. Arbeit, Liebe, Geld. Ich schluckte eine Zeit lang Antidepressiva, und mir wurde klar, dass ein Kurswechsel vonnöten war.
Sie gingen zum Schweizer Fernsehen und arbeiteten als Vollzeitautor für die Serie «Lüthy & Blanc».
Ja, ich brauchte dringend einen Job. Mich als Regisseur bei Fernsehserien verdingen wollte ich jedoch nicht. Aber dafür schreiben, warum nicht? So stieg ich 2003 bei Folge 155 von «Lüthy & Blanc» ein und schrieb in den darauffolgenden Jahren insgesamt 34 Folgen. Es war ein sehr anstrengender, aber gut bezahlter Job. Und diese Schreiberfahrung beim Fernsehen hat mir auch für meine eigene Arbeit weitergeholfen.
In «Rosie» erzählen Sie eine hochdramatische, zuweilen auch pathetische Geschichte in fast fröhlicher Leichtigkeit. Warum gibt es das im Deutschschweizer Spielfilm sonst kaum?
Es freut mich natürlich, wenn Sie «Rosie» so sehen. Aber ich bin wohl kaum die geeignete Person, um Ihnen auf diese Frage eine gültige Antwort zu geben. Vielleicht hat es mit dem ausgleichenden und selbstreferenziellen Fördersystem der Schweiz zu tun. Es garantiert kein kontinuierliches Schaffen für den Einzelnen, zumal wir eher eine Geschichtenförderung als eine Personenförderung haben. Bei den besten Leuten vergehen oft fünf Jahre und mehr zwischen zwei Projekten. Aber wie soll der Einzelne besser werden, wenn er nicht kontinuierlich möglichst viele Erfahrungen sammeln kann? Ich habe vierzehn Jahre lang nicht gedreht. Aber zum Glück hatte ich als Dozent an einer sehr guten Filmakademie die Möglichkeit, mich theoretisch und praktisch stetig weiterzubilden. – Oh, ich predige hier gerade so was wie eine darwinistische Auslese der Besten. Da bin ich ja in meinem Herzen auch nicht wirklich dafür.
Vorpremieren in Anwesenheit von Marcel Gisler und den SchauspielerInnen von Freitag, 24., bis Donnerstag, 30. Mai 2013, an diversen Orten. www.looknow.ch
Im Juni 2013 läuft in St. Gallen im Kinok eine Retrospektive aller Filme von Marcel Gisler. www.kinok.ch
Rosie. Regie: Marcel Gisler. Schweiz 2012
Marcel Gisler und «Rosie» : Von Lebenslügen und Liebesnöten
Der Regisseur Marcel Gisler hat in 28 Jahren fünf Kinofilme realisiert: Sein Erstling «Tagediebe» gewann 1985 in Locarno den Silbernen Leoparden, wurde als europäische Antwort auf Jim Jarmusch gefeiert. 1999 gewann er mit «F. est un salaud» den Schweizer Filmpreis. Danach wurde es still um den Ostschweizer Filmschaffenden.
Nun ist er mit «Rosie» wieder zurück. «Eigentlich ist es mein erster ‹richtiger› Schweizer Film», sagt der 1960 in Altstätten SG geborene Gisler. Sein grosses Filmdrama war der Eröffnungsfilm der diesjährigen Solothurner Filmtage. Die 73-jährige Sibylle Brunner erhielt für ihre Rolle als titelgebende Rosie den Schweizer Filmpreis als beste Hauptdarstellerin. Wobei der Begriff Hauptdarstellerin für die Figur der eigenwilligen und kratzbürstigen Witwe Rosie irreführend ist. Denn mehr noch als deren Geschichte erzählt der Film von den Lebenslügen und Liebesnöten ihres Sohnes Lorenz (Fabian Krüger). Der erfolgreiche homosexuelle Schriftsteller kehrt vorübergehend aus seiner Wahlheimat Berlin in die Ostschweizer Provinz zurück. Hier will er sich zusammen mit seiner Schwester Sophie (Judith Hofmann) um die gesundheitlich schwer angeschlagene Mutter kümmern. Es stellt sich die drängende Frage einer Übersiedelung Rosies ins Altersheim. Doch die schlagfertige und luzide alte Dame widersetzt sich diesem Ansinnen nach Kräften.
Dieser Plot hätte in den Händen eines weniger versierten Cineasten leicht zur seichten Soap verkommen können. Bei Gisler wird er aber zu einem intensiven und vielschichtigen Drama. Dabei glänzt «Rosie» mit gestochen klaren und lebendigen Dialogen, wie man sie so noch kaum in einem Dialektfilm erlebt hat, scheut sich bisweilen auch nicht vor Pathos und thematisiert darüber hinaus in ungewöhnlicher Schärfe die Stellung alter Menschen in der hiesigen Gesellschaft.