Brasilien: «Wir sind endlich aufgewacht»

Nr. 25 –

Wie zuvor in der Türkei sind auch in Brasilien plötzlich Hunderttausende auf den Strassen und protestieren aus einem scheinbar kleinen Anlass gegen die Regierung. Eine Bewegung unzufriedener StadtbewohnerInnen entsteht.

«Ich hatte schon fast aufgegeben», sagt Luciano, «aber jetzt passiert endlich was.» Der 42-jährige Verwaltungsangestellte aus Rio de Janeiro ist an diesem Montag zum ersten Mal mit dabei. Noch steht er etwas zögerlich am Strassenrand, während um ihn herum Tausende auf die Strasse strömen. Sie wollen wieder den Verkehr rund um die Ausfallstrasse Avenida Getúlio Vargas blockieren. Es ist die fünfte Demonstration allein in Rio gegen die Erhöhung der Busfahrpreise, aber längst geht es um mehr. Eine Bewegung entsteht. Die Protestierenden sind unzufrieden mit den bestehenden Institutionen, sie beklagen die Korruption der Regierung, die Geldverschwendung im Zusammenhang mit der nächstes Jahr stattfindenden Fussballweltmeisterschaft.

«Schluss mit Liebe»

Als die Demonstration beginnt, weiss noch niemand, ob die Polizei auch dieses Mal die Ansammlung mit Tränengas und Gummigeschossen auflösen wird. Erst nach einer guten Stunde wird klar, dass die Strasse heute zum ersten Mal den DemonstrantInnen gehört. Allein in Rio de Janeiro sind es schliesslich 100 000, die stundenlang friedlich durch die Innenstadt ziehen. Erst am Ende kommt es am Rand zu vereinzelten Ausschreitungen.

Auch in São Paulo, Brasília, Belo Horizonte und Porto Alegre gehen die Leute an diesem Abend auf die Strasse, insgesamt über 200 000 Menschen. Sie besetzen Strassen, Brücken, Eingänge zu Regierungspalästen, sogar das Dach des Parlaments in der Hauptstadt. Es sind die grössten Massenproteste seit zwei Jahrzehnten. Noch vor einer Woche waren es nur ein paar Tausend, die demonstrierten. Sie machten sich mit Verweis auf die Proteste im türkischen Istanbul Mut: «Jetzt ist Schluss mit Liebe, das hier wird die nächste Türkei!», riefen sie in Rio in Anspielung auf eine Werbeaktion der Stadtbehörden. Diese hatten den Slogan «Ich liebe Rio» breit plakatieren lassen. Mit dem Anwachsen der Bewegung innerhalb einer Woche haben sich die Parolen der DemonstrantInnen verändert. So heisst es jetzt etwa: «Das hier ist weder Griechenland noch die Türkei, sondern Brasilien – und wir sind endlich aufgewacht!»

Letzte Woche rechneten Regierung und Medien der Bevölkerung noch vor, dass eine Preiserhöhung von zwanzig Centavos (keine zehn Rappen) pro Busfahrt doch nun wirklich nicht so schlimm sei. Sie verstanden das Anliegen der Protestierenden nicht und versuchten, sie als KrawallmacherInnen zu kriminalisieren. Doch nach dem gewaltsamen Polizeieinsatz vom letzten Donnerstag in São Paulo, bei dem auch viele JournalistInnen und unbeteiligte PassantInnen verletzt wurden, kippte die öffentliche Meinung. Dass manche nur verhaftet wurden, weil sie zum Schutz vor Tränengas Essigfläschchen in der Tasche hatten, erzeugte viel Hohn und Spott gegen die Polizei. «Essigrevolution» tauften die Leute ihre Bewegung nun ironisch.

«Scheiss auf die Copa», rufen viele, während sie am Montagabend in Rio über die Avenida Rio Branco ziehen. Sie meinen die Copa das Confederações, ein Fussballturnier, das in diesen Tagen begonnen hat und als Test für die anstehende Fussball-WM nächstes Jahr dient. «Es geht um viel mehr als um die Erhöhung der Fahrpreise», sagt die achtzehnjährige Biologiestudentin Mariana. «Die Regierung gibt zu viel Geld für unnützes Zeug wie Fussballstadien aus. Und zu wenig für Gesundheit und Bildung.» Viele der Protestierenden sind StudentInnen.

Nulltarif statt Stau

Initiiert wurden die andauernden Proteste von einer relativ kleinen Gruppe von AktivistInnen, die seit Jahren für einen radikalen Umbau der urbanen Verkehrssysteme kämpfen. Die Gruppe nennt sich «Passe Livre», was so viel wie Gratisbillett bedeutet. Die AktivistInnen sprechen von einem Recht auf Mobilität, einem Recht auf Stadt und fordern den Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr. Dass man sich möglichst schnell in der Stadt bewegen kann, sei im Interesse aller. Doch bei Verkehrsfragen geht es in Metropolen wie Rio de Janeiro und São Paulo nicht um das Gemeinwohl: Private Busunternehmen haben den Markt untereinander aufgeteilt und wollen möglichst viel Profit erzielen. Sie sind stark mit der Politik verbandelt und finanzieren Wahlkämpfe. In der Bevölkerung spricht man von einer Mafia. Lange herrschte die Meinung vor, dass dagegen nichts zu machen sei. Die Leute nahmen die Missstände passiv hin. Dabei sind viele Menschen auf die Busse angewiesen, weil sie in den Aussenbezirken leben, wo die Mieten noch erschwinglich sind. Wer von dort zur Arbeit oder zur Universität pendelt, braucht oft bis zu drei Stunden Anfahrtszeit, weil die Busse im Stau stecken bleiben.

«Rio ist aufgewacht», singen die DemonstrantInnen am Montagabend auf der Avenida Rio Branco. Die Strasse ist von hohen Bürotürmen gesäumt. Manche Angestellte, die noch im Büro ausharren, leeren den Reisswolf und werfen Papierschnitzel auf die Strasse. Wie Konfetti wirbeln sie durch die Luft. Die Leute jubeln.

Am Dienstag gingen die Demonstrationen in verschiedenen Städten Brasiliens weiter. Dabei kam es in São Paulo zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Von den Behörden kommen inzwischen unterschiedliche Signale: Verschiedene Stadtregierungen haben angekündigt, die Busfahrpreise zu senken. Und die brasilianische Präsidentin Dilma Rouseff sagte, die Stimmen auf der Strasse müssten gehört werden. Gleichzeitig hat jedoch das Justizministerium beschlossen, Militärpolizei in Städte zu entsenden, in denen Spiele der Copa das Confederações stattfinden.