Verdingkinder: Jetzt wird der Tatbeweis gefordert
Im April hatte sich Bundesrätin Simonetta Sommaruga bei den Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen – im Volksmund als Verdingkinder bekannt – für das ihnen angetane Unrecht und Leid entschuldigt. Damit ist die Sache aber nicht erledigt. Jetzt steht die Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der Schweiz an. Am runden Tisch mit VertreterInnen von Politik und Kirche sowie den Delegierten der Opfer wurden letzte Woche weitere Schritte beraten.
Und damit beginnen die Schwierigkeiten. Beispiel Akten: Niemand hat den Überblick über die in den Archiven verstreuten Dokumente. Sie sind nicht nur für die Opfer wichtig, die Aufschluss über ihre TäterInnen und ihr Schicksal haben möchten, sondern auch als Grundlage für Entschädigungsansprüche. Laut dem Historiker Thomas Huonker mussten Betroffene schon verschiedentlich feststellen, dass Akten verschwunden sind. «Es gilt deswegen, den Bestand zu sichern», sagt der Fachmann. Es kam vor, dass Leute abgewimmelt wurden. ArchivarInnen müssten lernen, mit den Opfern, ihrer Sprache und ihren Bedürfnissen umzugehen, so Huonker.
Die echte Knacknuss sind aber die finanziellen Entschädigungen. Die Betroffenen sind entschlossen, keine «Rehabilitierung light» zu akzeptieren. Die einstigen TäterInnen – Kirche, Bauern, Staat, Heimverbände, Pharmaindustrie – sollen zahlen. Für die Opfer sind je 10 000 Franken Nothilfe und später 120 000 Franken in Form von Zusatzrenten beantragt. Unverzichtbar sei ein Härtefallfonds mit fünfzig Millionen Franken, der rasch einzurichten sei, fordern die Opfer. Modelle, wie ein solcher Fonds aussehen könnte, werden bis im Herbst abgeklärt. Das alles sind aber nur Formalitäten. Entscheidend ist die Äufnung des Fonds. Spätestens dann wird sich zeigen, wie ernst es den Verantwortlichen ist.
Ursula Müller-Biondi, eines der Opfer, meint bezüglich der Verdingkinder: «Sie wurden um Lohn und Rente betrogen. Es ist gestohlenes Geld, das sie zurückerstattet haben müssen.» Die Opfer wollen keine Almosen und keine Genugtuung. Sie wollen zurück, was ihnen genommen wurde und worauf sie ein Anrecht haben. Da der Raub gross war, kann Gerechtigkeit in diesem Fall teuer werden.